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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 300 Zufällig hassen wir und zufällig wir lieben, Kein Opfer bringen wir der Liebe noch der Wut, In unsren Seelen ist geheimer Frost verblieben... * Von solchen Menschen, die ihr bornierter, übersättigter Egoismus kraftlos machte, war natürlich nichts Gutes zu erhoffen; von diesen Kretins, die nach dem großen inneren, alle edlen Kräfte des französischen Volkes verzehrenden Kampf übriggeblieben waren 12 , läßt sich natürlich nicht erwarten, daß sie ihrem Volk neues Leben einflößten; das waren nicht die rechten Ideale für uns, die wir einen Überschuß an frischen, noch unverbrauchten Kräften in uns spürten. Das war natürlich nichts für die Herzen glühender, junger Männer, die gleich bereit waren, bis zur Selbstaufopferung zu lieben wie tödlich zu hassen, die nach Taten, nach den höchsten Gütern dürsteten. Die Feindschaft vertiefte sich besonders dadurch, daß diese enttäuschten, blasierten, von Egoismus zerfressenen Leute bei uns als Orakel gegolten hatten: eine Zeitlang machte man bei uns großes Geschrei über die Franzosen, alle Welt begeisterte sich an den [612] Franzosen, aber Franzosen dieser Sorte taugten absolut zu nichts, bei sich zu Haust nicht, und noch viel weniger für uns. Wir brauchten Enthusiasmus, vor uns lag ein weites Feld der Tätigkeit; wie sollten wir da nicht jene Leute hassen, die uns nur ihre Machtlosigkeit, Enttäuschung und Tatenlosigkeit geben konnten Die Unbeliebtheit, die die Franzosen der Zeit des ersten Kaiserreichs und der Restauration durchaus verdienten, wurde unverdientermaßen auch auf ihre Vorfahren ausgedehnt, und ebenso unverdientermaßen verfielen der allgemeinen Ablehnung jene frischen Geistesrichtungen, die in der jungen Generation bei Denkern aufkamen, welche mit den früheren Berühmtheiten nichts zu tun hatten, sondern Männer von fester und erhabener Gesinnung, Männer mit frischen Kräften waren. Schuld an dieser Ungerechtigkeit war teilweise die ungenügende Bekanntschaft mit den neuen Tendenzen, die in der französischen Literatur zutage traten, teilweise auch das gegen alle Franzosen überhaupt bestehende Vorurteil, vor allem aber die bedingungslose Anbetung des Hegelschen Systems als der obersten und einzigen Wahrheit, außer der nichts Beachtung verdiente. Die Verehrung Hegels im Kreise der Freunde Stankewitschs ging, wie wir gesagt haben, bis zu einem Extrem, bei dem die begabten, selbständig denkenden und vorwärtsstrebenden jungen Leute nicht stehenbleiben konnten. Anzeichen für eine unbewußte Unzufriedenheit mit dem System, für das sie sich auch weiterhin begeisterten, traten bei den begabtesten Mitgliedern des Freundeskreises darin zutage, daß die Freunde im Hegelschen Sinn entschiedener und rückhaltloser zu reden begannen als Hegel selber und, wie man sagt, hegelischer wurden als Hegel selber. Besonders tat sich hierin Belinski hervor, der überhaupt nicht das Zeug dazu hatte, aus Angst, er könnte vom exakten Wort irgendeiner Autorität abweichen, auf eine logische Schlußfolgerung zu verzichten. Was Menschen, die ihn persönlich kannten, hierüber berichten, wird bestätigt durch viele Seiten seiner Schriften, die ganz im Geiste Hegels, aber mit einer Entschiedenheit geschrieben sind, die Hegel selbst nicht gebilligt hätte. Und überhaupt konnte Hegel, der über alles mit [613] der Leidenschaftslosigkeit eines ergrauten Weisen sprach, der alles mit den Augen des lebensfremden, unbewegten Stubengelehrten betrachtete, nicht für lange Zeit einen so feurigen, von lebendigem Leben durchdrungenen Mann von fünfundzwanzig Jahren, wie Belinski, in unbedingter Botmäßigkeit erhalten. Die Naturen des Lehrers und des Schülers, die Erfordernisse zweier verschiedener Gesellschaften, innerhalb derer die beiden wirkten, waren allzu unvereinbar. Belinski schüttelte schnell alles ab, was in Hegels Lehre seinen Geist beengen konnte, und trat bald nach seiner Übersiedlung nach Petersburg bereits völlig selbständig auf. * M. J. Lermontow, Ausgewählte Werke, Moskau 1948, S. 96 und 97. Die Red. 12 Hiermit ist die französische bürgerliche Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts gemeint. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 301 Zwei Umstände trugen dazu bei, daß dieser bei Belinskis Natur unausbleibliche Umschwung sich schneller vollzog, als es ohne diese Umstände geschehen wäre: die Annäherung der Freunde Stankewitschs an Herrn Ogarjow und seinen Freundeskreis 13 sowie die Übersiedlung Belinskis aus Moskau nach Petersburg. Die Einflüsse, unter denen sich die anfängliche Entwicklung Herrn Ogarjows und seiner Freunde vollzogen hatte, waren völlig verschieden von den Einflüssen, unter denen der Kreis Stankewitschs stand. Die deutsche Philosophie beschäftigte sie, als ein gar zu abstrakter Stoff, nur wenig. Ihre Aufmerksamkeit galt jenen Wissenschaften, die in unmittelbarer Beziehung zum Leben der Nationen standen. Damals bildeten sich in Frankreich als Gegenstück zu der seelenlosen und todbringenden Lehre der Ökonomisten neue Theorien über den nationalen Wohlstand aus. Die Ideen, die die neue Wissenschaft beseelten, wurden erst noch in phantastischen Formen vorgetragen, und es war für ihre voreingenommenen oder von eigennützigen Motiven geleiteten Gegner ein leichtes, die ihnen verhaßten Systeme zu verspotten, indem sie die gesunden und hochfliegenden Grundideen der neuen Theoretiker unbeachtet ließen und die phantastischen Schwärmereien, von denen sich anfangs keine neue Wissenschaft freihält, in übertriebener Form in den Vordergrund rückten. Hinter den offenbaren Absonderlichkeiten und der phantastischen Schwärmerei steckten aber in diesen Systemen ebenso tiefe wie wohltätige Wahrheiten. 14 Die große Mehrheit sowohl der Gelehrten als auch des europä-[614]ischen Leserpublikums wollte, da sie noch an die voreingenommenen und oberflächlichen Urteile der Ökonomisten glaubte, den Sinn der neuen Wissenschaft nicht verstehen, machte sich über die unrealisierbaren Utopien lustig, und fast niemand nahm sich dabei die Mühe, sie gründlich und unvoreingenommen zu studieren. Herr Ogarjow und seine Freunde beschäftigten sich mit diesen Fragen, deren außerordentliche Wichtigkeit für das Leben sie begriffen. Gleichzeitig galt die Aufmerksamkeit Herrn Ogarjows und seiner Freunde der Geschichte, besonders der neusten, d. h. ihrem gerade für das Leben wichtigsten Teil; und da in jüngster Zeit Frankreich die Bühne war, auf der sich die Geschichte vornehmlich abspielte, so interessierten sie sich vor allem für dessen Geschichte. Auch in der Literatur gaben sie nicht den Deutschen den unbedingten Vorzug, da sie die neuen französischen Schriftsteller kannten und zu schätzen wußten, die damals die Literatur noch nicht beherrschten, jedoch bereits erkennen ließen, daß sie sie bald beherrschen würden. Unter dem Einfluß dieser Beschäftigungen entstanden in dem genannten Kreis bestimmte und konsequente wissenschaftlich-literarische Ansichten. So zerfielen die führenden Repräsentanten der jungen Generation in Moskau in zwei Gruppen mit zwei verschiedenen Richtungen: in der einen war die Hegelsche Philosophie herrschend, während die andere sich vorwiegend mit den modernen Problemen des geschichtlichen Lebens beschäftigte. Es gab viele Punkte, wo die beiden Richtungen feindlich aufeinanderstoßen konnten; hinter der offenbaren Gegensätzlichkeit verbarg sich jedoch eine Identität im Wesen der Bestrebungen, die nur in dem nicht übereinstimmten, was bei jeder von ihnen ihre Einseitigkeit, ihr Mangel war, die sich aber gleichermaßen das Ziel stellten, aktiv für eine fruchtbare Entwicklung der russischen Gesellschaft tätig zu sein, die gleichermaßen das einzige Mittel zur Erreichung dieses Ziels in einer Belebung unserer Literatur und in der Erwekkung unseres geistigen Lebens sahen, gleichermaßen ihr Ideal in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit hatten und zueinander standen wie Theorie und Praxis, welche einander ergänzen müssen. Die wichtige [615] Frage, was die Oberhand gewinnen würde: das Gefühl der wesentlichen Zusammengehörigkeit oder die Widersprüche in zwar zweitrangigen, jedoch sehr wichtigen Fragen, mußte so oder so ihre Lösung finden, je nachdem, ob die Män- 13 Bezieht sich auf das Jahr 1840. Den Namen Herzens durfte Tschernyschewski aus Zensurgründen nicht erwähnen. 14 Gemeint ist die Lehre des utopischen Sozialisten Fourier. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 301<br />

Zwei Umstände trugen dazu bei, daß dieser bei Belinskis Natur unausbleibliche Umschwung<br />

sich schneller vollzog, als es ohne diese Umstände geschehen wäre: die Annäherung der<br />

Freunde Stankewitschs an Herrn Ogarjow und seinen Freundeskreis 13 sowie die Übersiedlung<br />

Belinskis aus Moskau nach Petersburg.<br />

Die Einflüsse, unter denen sich die anfängliche Entwicklung Herrn Ogarjows und seiner<br />

Freunde vollzogen hatte, waren völlig verschieden von den Einflüssen, unter denen der Kreis<br />

Stankewitschs stand. Die deutsche Philosophie beschäftigte sie, als ein gar zu abstrakter<br />

Stoff, nur wenig. Ihre Aufmerksamkeit galt jenen Wissenschaften, die in unmittelbarer Beziehung<br />

zum Leben der Nationen standen. Damals bildeten sich in Frankreich als Gegenstück<br />

zu der seelenlosen und todbringenden Lehre der Ökonomisten neue Theorien über den nationalen<br />

Wohlstand aus. Die Ideen, die die neue Wissenschaft beseelten, wurden erst noch in<br />

phantastischen Formen vorgetragen, und es war für ihre voreingenommenen oder von eigennützigen<br />

Motiven geleiteten Gegner ein leichtes, die ihnen verhaßten Systeme zu verspotten,<br />

indem sie die gesunden und hochfliegenden Grundideen der neuen Theoretiker unbeachtet<br />

ließen und die phantastischen Schwärmereien, von denen sich anfangs keine neue Wissenschaft<br />

freihält, in übertriebener Form in den Vordergrund rückten. Hinter den offenbaren Absonderlichkeiten<br />

und der phantastischen Schwärmerei steckten aber in diesen Systemen ebenso<br />

tiefe wie wohltätige Wahrheiten. 14 Die große Mehrheit sowohl der Gelehrten als auch des<br />

europä-[614]ischen Leserpublikums wollte, da sie noch an die voreingenommenen und oberflächlichen<br />

Urteile der Ökonomisten glaubte, den Sinn der neuen Wissenschaft nicht verstehen,<br />

machte sich über die unrealisierbaren Utopien lustig, und fast niemand nahm sich dabei<br />

die Mühe, sie gründlich und unvoreingenommen zu studieren. Herr Ogarjow und seine<br />

Freunde beschäftigten sich mit diesen Fragen, deren außerordentliche Wichtigkeit für das<br />

Leben sie begriffen. Gleichzeitig galt die Aufmerksamkeit Herrn Ogarjows und seiner Freunde<br />

der Geschichte, besonders der neusten, d. h. ihrem gerade für das Leben wichtigsten Teil;<br />

und da in jüngster Zeit Frankreich die Bühne war, auf der sich die Geschichte vornehmlich<br />

abspielte, so interessierten sie sich vor allem für dessen Geschichte. Auch in der Literatur<br />

gaben sie nicht den Deutschen den unbedingten Vorzug, da sie die neuen französischen<br />

Schriftsteller kannten und zu schätzen wußten, die damals die Literatur noch nicht beherrschten,<br />

jedoch bereits erkennen ließen, daß sie sie bald beherrschen würden. Unter dem Einfluß<br />

dieser Beschäftigungen entstanden in dem genannten Kreis bestimmte und konsequente wissenschaftlich-literarische<br />

Ansichten.<br />

So zerfielen die führenden Repräsentanten der jungen Generation in Moskau in zwei Gruppen<br />

mit zwei verschiedenen Richtungen: in der einen war die Hegelsche Philosophie herrschend,<br />

während die andere sich vorwiegend mit den modernen Problemen des geschichtlichen Lebens<br />

beschäftigte. Es gab viele Punkte, wo die beiden Richtungen feindlich aufeinanderstoßen<br />

konnten; hinter der offenbaren Gegensätzlichkeit verbarg sich jedoch eine Identität im<br />

Wesen der Bestrebungen, die nur in dem nicht übereinstimmten, was bei jeder von ihnen ihre<br />

Einseitigkeit, ihr Mangel war, die sich aber gleichermaßen das Ziel stellten, aktiv für eine<br />

fruchtbare Entwicklung der russischen Gesellschaft tätig zu sein, die gleichermaßen das einzige<br />

Mittel zur Erreichung dieses Ziels in einer Belebung unserer Literatur und in der Erwekkung<br />

unseres geistigen Lebens sahen, gleichermaßen ihr Ideal in der Zukunft und nicht in der<br />

Vergangenheit hatten und zueinander standen wie Theorie und Praxis, welche einander ergänzen<br />

müssen. Die wichtige [615] Frage, was die Oberhand gewinnen würde: das Gefühl<br />

der wesentlichen Zusammengehörigkeit oder die Widersprüche in zwar zweitrangigen, jedoch<br />

sehr wichtigen Fragen, mußte so oder so ihre Lösung finden, je nachdem, ob die Män-<br />

13 Bezieht sich auf das Jahr 1840. Den Namen Herzens durfte Tschernyschewski aus Zensurgründen nicht erwähnen.<br />

14 Gemeint ist die Lehre des utopischen Sozialisten Fourier.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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