15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 3<br />

unter dem Einfluß von politischen Überzeugungen zu schreiben, ist im höchsten Grade naiv,<br />

noch naiver aber ist es, diese Behauptung auf die Denker auszudehnen, die sich im besondern<br />

mit dem politischen Zweig der Philosophischen Wissenschaft befaßt haben.<br />

[66] Aber lassen wir es auf sich beruhen, ob die modernen Denker dadurch, daß sie Repräsentanten<br />

politischer Parteien sind, sich von den Denkern früherer Zeiten unterscheiden oder nicht;<br />

mag das in der Vergangenheit gewesen sein, wie es will, heute jedenfalls sehen wir, daß jeder<br />

Mensch mit entwickeltem Denkvermögen sich sehr intensiv für die politischen Ereignisse interessiert:<br />

die Zeitung wird selbst von Leuten gelesen, die nicht imstande sind, irgendein ernsteres<br />

Buch zu lesen; wieso tun die Denker unserer Epoche übel daran, wenn sie hinsichtlich ihrer<br />

geistigen Entwicklung nicht hinter den Offizieren und Beamten, den Gutsbesitzern und Fabrikanten,<br />

den Ladendienern und Handwerkern zurückbleiben Muß ein Denker unbedingt sturer<br />

und blinder sein als der gebildete Durchschnittsmensch Jeder, der sich einigermaßen zu geistiger<br />

Selbständigkeit aufgeschwungen hat, besitzt politische Überzeugungen und beurteilt alles<br />

im Einklang mit ihnen – warum soll man einem Philosophen oder politischen Theoretiker einen<br />

Vorwurf daraus machen, wenn seine Denkweise ebenso sinnvoll ist wie die Denkweise der<br />

Menschen, die aufzuklären er unternimmt Soll der Lehrer etwa ungebildeter sein als der Schüler<br />

Muß ein Mensch, der über einen bestimmten Gegenstand schreibt, weniger Interesse für<br />

ihn haben, als Menschen, die nicht so prätentiös sind, theoretische Abhandlungen über den Gegenstand<br />

in Druck zu geben Es gehört eine Schafsnaivität dazu, um einem Gelehrten einen<br />

Vorwurf daraus zu machen, daß er nicht dümmer und sturer ist als die ungelehrten Menschen.<br />

Besonders amüsant jedoch ist die Einfalt, mit der Jules Simon dem Publikum einreden will oder<br />

gar sich selbst einzureden verstanden hat, sein Buch halte sich von Tagespolitik fern. Uns ist<br />

einiges über die theoretischen Bücher, die Jules Simon in verschiedenen Jahren geschrieben hat,<br />

zu Ohren gekommen. Unter der Julimonarchie zeichnete sich seine Lehre durch gemäßigten<br />

Freiheitsgeist und eine herablassende halbe Billigung und halbe Verurteilung der wirklich fortschrittlichen<br />

Männer aus. Unter der Republik versteckte sich das Element der Freiheit bei ihm<br />

sorgfältig hinter wütenden Ausfällen gegen die entschiedenen Fortschrittler, die damals um ein<br />

Haar an die Macht gekommen wären. Als das [67] Kaiserreich erstarkte und die entschiedenen<br />

Fortschrittler machtlos zu sein schienen, während die Reaktion auf der ganzen Linie triumphierte,<br />

begann Jules Simon im Geiste rasender Freiheitsliebe zu schreiben. Hieraus können wir ersehen,<br />

daß seine Theorien nicht nur einfach die Auffassungen seiner Partei widerspiegelten, sondern<br />

sogar von den jeweiligen kurzfristigen Schwankungen in der Stimmung dieser Partei abhingen.<br />

Auch wenn wir nichts darüber gelesen hätten, wüßten wir doch mit Bestimmtheit, daß<br />

die Dinge sich so verhalten: wir brauchten nur zu wissen, daß Jules Simon in Frankreich ein<br />

gewisses Ansehen genießt und folglich nicht ganz dumm ist: ein kluger Mensch muß notwendig<br />

die Ereignisse bemerken, die sich in seiner Nachbarschaft abspielen, und muß mit ihnen rechnen<br />

– folglich muß auch sein System den Gang der Ereignisse widerspiegeln. Ein paar allzu naive<br />

Leute ausgenommen, versteht das jedermann. Herr Lawrow bemerkt selber, daß der Autor, den<br />

er zitiert, sein unerfüllbares Versprechen nicht gehalten hat. Aber wenn dem so ist, wozu hat es<br />

dann Jules Simon nötig gehabt, mit der Behauptung, sein System sei durchaus gefeit gegen jeden<br />

Einfluß der Tagespolitik, sich selbst auf höchst unglaubwürdige Weise zu verleumden<br />

Ein Mann, der derartig naive Ungereimtheiten vorbringt, kann ein tugendhafter Familienvater,<br />

ein ehrbarer Staatsbürger und ein angenehmer Schwätzer sein; aber ein Denker kann er nicht<br />

sein, weil er keine Logik im Kopfe hat. Wenn er Schriftsteller wird, können seine Werke belletristischen,<br />

archäologischen oder sonst irgendeinen Wert haben, sie können jedoch nicht die<br />

geringste philosophische Bedeutung besitzen. Deswegen geben wir jede Hoffnung auf, die<br />

philosophischen Werke Jules Simons jemals lesen zu müssen. Wenn wir Lust auf gute Feuilletons<br />

hätten, würden wir die Feuilletons von Frau Emile Girardin, von Louis Dunoyer oder<br />

Théophile Gautier lesen; verlangte es uns nach dichterischem Genuß, so würden wir die Ro-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!