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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 294 Mängel des Hegelschen Systems gut erkannt; man muß jedoch zugeben, daß die von Hegel aufgestellten Grundsätze der Wahrheit wirklich sehr nahekamen und daß einige Seiten der Wahrheit von diesem Denker mit wahrhaft erstaunlicher Kraft herausgearbeitet worden sind. Von diesen Wahrheiten verdanken einige ihre Entdeckung Hegel persönlich; andere sind, obwohl sie nicht ausschließlich seinem System angehören, sondern der ganzen deutschen Philosophie seit Kant und Fichte, doch vor Hegel niemals so klar formuliert und so stark vorgetragen worden wie in seinem System. Vor allem wollen wir auf den höchst fruchtbaren Grundsatz jeden Fortschritts verweisen, durch den sich die deutsche Philosophie im allgemeinen und Hegels System im besonderen so scharf und 50 glänzend von jenen scheinheiligen und feigen Ansichten unterscheiden die damals (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) bei den Franzosen und Engländern vorherrschend waren: „Die Wahrheit ist das oberste Ziel des Denkens; sucht die Wahrheit, denn in der Wahrheit liegt das höchste Gut; wie immer die Wahrheit sein mag, sie ist besser als alles, was nicht wahr ist; die erste Pflicht des Denkers ist: vor keinem Ergebnis haltmachen; er muß bereit sein, der Wahrheit seine liebsten Ansichten zum Opfer zu bringen. Der Irrtum ist die Quelle allen Verderbens; die Wahrheit ist das höchste Gut und die Quelle aller anderen Güter.“ Um die außerordentliche Wichtigkeit dieser Forderung richtig zu verstehen, die der gesamten deutschen Philosophie seit Kant eigen ist, die aber besonders energisch von Hegel ausgesprochen wurde, muß man sich daran erinnern, mit welch sonderbaren und engstirnigen Bedingungen die Denker anderer damaliger Schulen die Wahrheit einengten: sie machten sich einzig dazu ans Philosophieren, um „eine ihnen am Herzen liegende Überzeugung zu rechtfertigen“, d. h. sie suchten nicht nach der Wahrheit, sondern nach einer Stütze für ihre Vorurteile; jeder nahm von der Wahrheit nur das, was ihm gefiel, und lehnte jede ihm unbequeme Wahrheit ab, wobei er ungeniert zugab, daß ein angenehm Irrtum ihm besser gefalle als eine unvorein-[601]genommene Wahrheit. Diese Manier, sich nicht um die Wahrheit zu bemühen, sondern um die Bestätigung angenehmer Vorurteile, benannten die deutschen Philosophen (besonders Hegel) „subjektives Denken“, Philosophieren zum eignen Vergnügen und nicht aus lebendigem Bedürfnis nach Wahrheit. Hegel ist dieser inhaltlosen und schädlichen Beschäftigung scharf zu Leibe gegangen. Als notwendiges Schutzmittel gegen jede Versuchung, zugunsten persönlicher Wünsche oder Vorurteile von der Wahrheit abzuweichen, stellte Hegel die berühmte „dialektische Denkmethode“ auf. Ihr Wesen besteht darin, daß der Denker bei keinem positiven Schlußergebnis stehenbleiben darf, sondern suchen muß, ob es an dem Gegenstand, über den er nachdenkt, nicht Eigenschaften und Kräfte gibt, die im Gegensatz zu dem stehen, was auf den ersten Blick an diesem Gegenstand erkennbar ist; hierdurch war der Denker gezwungen, den Gegenstand von allen Seiten zu betrachten, und die Wahrheit ergab sich ihm nur als Folge des Kampfes aller möglicher gegensätzlicher Meinungen. Auf diese Weise kam man an Stelle der bisherigen einseitigen Auffassungen des Gegenstandes nach und nach einer umfassenden, allseitigen Erforschung und zum lebendigen Begriff von allen wirklichen Eigenschaften des Gegenstandes. Die Erklärung der Wirklichkeit wurde zur wesentlichen Pflicht philosophischen Denkens. Hieraus ergab sich eine außerordentliche Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, über die man sich früher keine Gedanken gemacht hatte, indem man sie ungeniert zugunsten der eigenen, einseitigen Vorurteile entstellte. So trat gewissenhafte, unermüdliche Wahrheitssuche an die Stelle der bisherigen, willkürlichen Auslegungen. In der Wirklichkeit hängt aber alles von den Umständen, von den örtlichen und zeitlichen Bedingungen ab, und Hegel erkannte daher, daß die allgemeinen Phrasen, mit denen man bisher über Gut und Böse geurteilt hatte, ohne die näheren Umstände und Ursachen zu untersuchen, unter denen die betreffende Erscheinung entstanden war – daß diese allgemeinen, abstrakten Redereien unbefriedigend seien: jeder Gegenstand, jede Erscheinung hat eigene Bedeutung und muß unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt werden, unter denen sie existiert; diese [602] Regel fand ihren Ausdruck in der Formel: „Es OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 295 gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist konkret“, d. h. ein definitives Urteil läßt sich nur über eine bestimmte Tatsache fällen, und zwar nach Untersuchung aller Umstände, von denen sie abhängt. * Selbstverständlich kann diese flüchtige Aufzählung einiger Grundsätze der Hegelschen Philosophie keine Vorstellung von der hinreißenden Wirkung der Werke des großen Philosophen geben, der zu seiner Zeit auch die mißtrauischsten Schüler durch die ungewöhnliche Kraft und Erhabenheit seines Denkens packte, eines Denkens, das alle Gebiete des Seins seiner Herrschaft unterwarf, in jede Sphäre des Lebens die Identität der Gesetze der Natur und der Geschichte mit seinem eigenen Gesetz der dialektischen Entwicklung aufdeckte, alle Tatsachen der Religion, der Kunst, der exakten Wissenschaften, des Staats- und Privatrechts, [603] der Geschichte und der Psychologie mit dem Netz systematischer Einheit erfaßte, so daß alles sich erklären und versöhnen ließ. Die Zeit jener Philosophie, deren letzter und größter Repräsentant Hegel war, ist für Deutschland vorüber. Gestützt auf die von ihr erarbeiteten Resultate, hat die Wissenschaft, wie wir schon sagten, einen Schritt vorwärts getan; aber diese neue Wissenschaft entstand nur als Weiterentwicklung des Hegelschen Systems, das als Übergang von der abstrakten Wissenschaft zur Wissenschaft des Lebens für immer historische Bedeutung behält. Diese Bedeutung hatte die Hegelsche Philosophie für uns: sie diente als Übergang vom sterilen, scholastischen Spintisieren, das an Apathie und Ignoranz grenzte, zu einer einfachen und klaren Betrachtungsweise der Literatur und des Lebens, weil diese Betrachtungsweise, wie wir zu zeigen versucht haben, im Keime in ihren Grundsätzen beschlossen lag. Feurige und entschlossene Geister wie Belinski und einige andere konnten sich nicht lange mit den engstirnigen Schlußfolgerungen zufrieden geben, auf die sich die Anwendung dieser Grundsätze im System Hegels selber beschränkte; sie bemerkten sehr bald, daß selbst die Grundsätze dieses Denkers mangelhaft waren. Daraufhin gaben sie ihren bisherigen unbedingten Glauben an sein System auf und schritten vorwärts, ohne, wie Hegel es getan hatte, auf halbem Wege haltzumachen. Sie bewahrten sich aber für immer eine tiefe Achtung vor seiner Philosophie, der sie wirklich sehr viel verdankten. Wir haben jedoch bereits gesagt, daß der Inhalt des Hegelschen Systems durchaus nicht seinen Grundsätzen entspricht, die er selbst verkündete und auf die wir hingewiesen haben. Im Feuer der ersten Begeisterung hatten Belinski und seine Freunde diesen inneren Widerspruch nicht bemerkt, und es wäre auch unnatürlich gewesen, wenn er sich gleich beim ersten Male hätte bemerken lassen: er wird durch die ungewöhnliche Kraft der Hegelschen Dialektik äußerst gut verdeckt, so daß in Deutschland selber nur die reifsten und stärksten Geister – und * Zum Beispiel: „Ist der Regen gut oder schlecht“ – diese Frage ist abstrakt; sie läßt sich definitiv nicht beantworten; manchmal bringt der Regen Nutzen, manchmal, wenn auch seltener, bringt er Schaden; man muß bestimmt fragen: „Nach Beendigung der Getreideaussaat fiel fünf Stunden lang heftiger Regen – war er für das Getreide von Nutzen“ Nur hier gibt es eine klare Antwort, und sie hat den Sinn: „Dieser Regen war sehr nützlich.“ – „Aber im gleichen Sommer fiel, als die Zeit der Getreideernte herannahte, eine ganze Woche lang ein Dauerregen – war das gut für das Getreide“ Die Antwort ist ebenfalls klar und ebenfalls eindeutig: „Nein, dieser Regen war schädlich.“ Genau so werden in der Hegelschen Philosophie alle Fragen beantwortet: „Ist der Krieg verderblich oder wohltätig“ Allgemein läßt sich hierauf keine bestimmte Antwort geben; man muß zuerst wissen, von was für einem Krieg die Rede ist, alles hängt von den Umständen, von Zeit und Ort ab. Für wilde Völker ist der Schaden des Krieges weniger, der Nutzen dagegen mehr spürbar; kultivierten Völkern bringt der Krieg weniger Nutzen und mehr Schaden. Der Krieg von 1812 aber war beispielsweise für das russische Volk eine Rettung; die Schlacht bei Marathon war eine der positivsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit. Das ist der Sinn des Axioms: „Es gibt keine abstrakte Wahrheit; die Wahrheit ist konkret“ – konkret ist der Begriff eines Gegenstandes dann, wenn der Gegenstand in allen seinen Eigenschaften und Besonderheiten und mit den Umständen, unter denen er existiert, vorgestellt wird, nicht aber in Abstraktion von diesen Umständen und von seinen lebendigen Besonderheiten (wie ihn das abstrakte Denken vorstellt, dessen Urteile daher für das wirkliche Leben keinen Sinn haben). OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 295<br />

gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist konkret“, d. h. ein definitives Urteil läßt sich<br />

nur über eine bestimmte Tatsache fällen, und zwar nach Untersuchung aller Umstände, von<br />

denen sie abhängt. *<br />

Selbstverständlich kann diese flüchtige Aufzählung einiger Grundsätze der Hegelschen Philosophie<br />

keine Vorstellung von der hinreißenden Wirkung der Werke des großen Philosophen<br />

geben, der zu seiner Zeit auch die mißtrauischsten Schüler durch die ungewöhnliche Kraft und<br />

Erhabenheit seines Denkens packte, eines Denkens, das alle Gebiete des Seins seiner Herrschaft<br />

unterwarf, in jede Sphäre des Lebens die Identität der Gesetze der Natur und der Geschichte<br />

mit seinem eigenen Gesetz der dialektischen Entwicklung aufdeckte, alle Tatsachen<br />

der Religion, der Kunst, der exakten Wissenschaften, des Staats- und Privatrechts, [603] der<br />

Geschichte und der Psychologie mit dem Netz systematischer Einheit erfaßte, so daß alles sich<br />

erklären und versöhnen ließ. Die Zeit jener Philosophie, deren letzter und größter Repräsentant<br />

Hegel war, ist für Deutschland vorüber. Gestützt auf die von ihr erarbeiteten Resultate, hat die<br />

Wissenschaft, wie wir schon sagten, einen Schritt vorwärts getan; aber diese neue Wissenschaft<br />

entstand nur als Weiterentwicklung des Hegelschen Systems, das als Übergang von der<br />

abstrakten Wissenschaft zur Wissenschaft des Lebens für immer historische Bedeutung behält.<br />

Diese Bedeutung hatte die Hegelsche Philosophie für uns: sie diente als Übergang vom sterilen,<br />

scholastischen Spintisieren, das an Apathie und Ignoranz grenzte, zu einer einfachen und<br />

klaren Betrachtungsweise der Literatur und des Lebens, weil diese Betrachtungsweise, wie<br />

wir zu zeigen versucht haben, im Keime in ihren Grundsätzen beschlossen lag. Feurige und<br />

entschlossene Geister wie Belinski und einige andere konnten sich nicht lange mit den engstirnigen<br />

Schlußfolgerungen zufrieden geben, auf die sich die Anwendung dieser Grundsätze<br />

im System Hegels selber beschränkte; sie bemerkten sehr bald, daß selbst die Grundsätze<br />

dieses Denkers mangelhaft waren. Daraufhin gaben sie ihren bisherigen unbedingten Glauben<br />

an sein System auf und schritten vorwärts, ohne, wie Hegel es getan hatte, auf halbem Wege<br />

haltzumachen. Sie bewahrten sich aber für immer eine tiefe Achtung vor seiner Philosophie,<br />

der sie wirklich sehr viel verdankten.<br />

Wir haben jedoch bereits gesagt, daß der Inhalt des Hegelschen Systems durchaus nicht seinen<br />

Grundsätzen entspricht, die er selbst verkündete und auf die wir hingewiesen haben. Im<br />

Feuer der ersten Begeisterung hatten Belinski und seine Freunde diesen inneren Widerspruch<br />

nicht bemerkt, und es wäre auch unnatürlich gewesen, wenn er sich gleich beim ersten Male<br />

hätte bemerken lassen: er wird durch die ungewöhnliche Kraft der Hegelschen Dialektik äußerst<br />

gut verdeckt, so daß in Deutschland selber nur die reifsten und stärksten Geister – und<br />

* Zum Beispiel: „Ist der Regen gut oder schlecht“ – diese Frage ist abstrakt; sie läßt sich definitiv nicht beantworten;<br />

manchmal bringt der Regen Nutzen, manchmal, wenn auch seltener, bringt er Schaden; man muß bestimmt<br />

fragen: „Nach Beendigung der Getreideaussaat fiel fünf Stunden lang heftiger Regen – war er für das<br />

Getreide von Nutzen“ Nur hier gibt es eine klare Antwort, und sie hat den Sinn: „Dieser Regen war sehr nützlich.“<br />

– „Aber im gleichen Sommer fiel, als die Zeit der Getreideernte herannahte, eine ganze Woche lang ein<br />

Dauerregen – war das gut für das Getreide“ Die Antwort ist ebenfalls klar und ebenfalls eindeutig: „Nein, dieser<br />

Regen war schädlich.“ Genau so werden in der Hegelschen Philosophie alle Fragen beantwortet: „Ist der<br />

Krieg verderblich oder wohltätig“ Allgemein läßt sich hierauf keine bestimmte Antwort geben; man muß zuerst<br />

wissen, von was für einem Krieg die Rede ist, alles hängt von den Umständen, von Zeit und Ort ab. Für<br />

wilde Völker ist der Schaden des Krieges weniger, der Nutzen dagegen mehr spürbar; kultivierten Völkern<br />

bringt der Krieg weniger Nutzen und mehr Schaden. Der Krieg von 1812 aber war beispielsweise für das russische<br />

Volk eine Rettung; die Schlacht bei Marathon war eine der positivsten Ereignisse in der Geschichte der<br />

Menschheit. Das ist der Sinn des Axioms: „Es gibt keine abstrakte Wahrheit; die Wahrheit ist konkret“ – konkret<br />

ist der Begriff eines Gegenstandes dann, wenn der Gegenstand in allen seinen Eigenschaften und Besonderheiten<br />

und mit den Umständen, unter denen er existiert, vorgestellt wird, nicht aber in Abstraktion von diesen<br />

Umständen und von seinen lebendigen Besonderheiten (wie ihn das abstrakte Denken vorstellt, dessen Urteile<br />

daher für das wirkliche Leben keinen Sinn haben).<br />

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