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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 293<br />
1848) entwickelt worden ist; deshalb stellen sich [596] auch die Aufsätze, die Belinski und seine<br />
Gesinnungsgenossen unter dem ausschließlichen Einfluß der Werke Hegels im „Moskowski<br />
Nabljudatel“ Veröffentlichten, auf den ersten Blick als absoluter Widerspruch zu den Aufsätzen<br />
dar, die der [597] gleiche Belinski einige Jahre später schrieb. Dieser Widerspruch beruht, wie<br />
wir bereits gesagt haben, auf der Zwiespältigkeit von Hegels System selber, auf dem Widerspruch<br />
zwischen seinen Grundsätzen und seinen Schlußfolgerungen, [598] zwischen Geist und<br />
Inhalt. Hegels Grundsätze waren außerordentlich machtvoll und umfassend, seine Schlußfolgerun<br />
gen dagegen borniert und nichtssagend: so kolossal das Genie des großen Denkers war,<br />
reichten seine Kräfte doch nur dazu aus, die allgemeinen Ideen auszusprechen, aber nicht [599]<br />
mehr dazu, unerschütterlich auf diesen Grundlagen stehenzubleiben und alle notwendigen Folgen<br />
logisch aus ihnen zu entwickeln. Hegel hatte die Wahrheit aufleuchten sehen, aber nur in<br />
den allgemeinsten, abstrakten, ganz unbestimmten Umrissen; sie von Angesicht zu Angesicht zu<br />
erblicken, wurde erst der nachfolgenden Generation zuteil. Und nicht nur die Schlußfolgerungen<br />
aus seinen Grundsätzen verstand er nicht zu ziehen – diese Grundsätze selber stellten sich ihm<br />
noch nicht in ihrer ganzen Klarheit dar, waren ihm noch dunkel. Die folgende Generation von<br />
Denkern tat einen weiteren Schritt vorwärts, und die von Hegel unbestimmt, einseitig und abstrakt<br />
ausgesprochenen Grundsätze traten in ihrer ganzen Fülle und Klarheit in Erscheinung; da<br />
konnte es kein Schwanken mehr geben, die Zwiespältigkeit verschwand, die falschen Schlußfolgerungen,<br />
die Hegel durch seine Inkonsequenz bei der Entwicklung der Grundthesen in die Wissenschaft<br />
hineingetragen hatte, wurden beiseite geschoben, und der Inhalt wurde mit den<br />
Grundwahrheiten in Einklang gebracht. Diesen Lauf nahmen die Dinge in Deutschland, den<br />
gleichen nahmen sie auch bei uns. Die Entwicklung konsequenter Anschauungen aus den zweideutigen<br />
und jeder Anwendung baren Hinweise Hegels vollzog sich bei uns teilweise unter dem<br />
Einfluß der deutschen Denker, die nach Hegel auftraten, teilweise aber – wir können das mit<br />
allem Stolz sagen – aus eigner Kraft. Hier zeigte der russische Geist zum erstenmal seine Fähigkeit,<br />
sich an der Weiterbildung der gesamtmenschlichen Wissenschaft zu beteiligen. 9<br />
Wir wollen nunmehr jene Grundsätze der Hegelschen Philosophie durchgehen, die mit ihrer<br />
Macht und ihrer Wahrheit einen so hinreißenden Eindruck auf die Männer des „Moskowski<br />
Nabljudatel“ machten, daß im Feuer des Enthusiasmus, den dieses erhabene Streben auslöste,<br />
zeitweise alle übrigen Forderungen der Vernunft und des Lebens in Vergessenheit gerieten,<br />
und der gesamte Inhalt des Systems angenommen wurde, das sich rühmte, auf diesen tiefen<br />
Wahrheiten zu beruhen.<br />
Wir sind ebensowenig Anhänger Hegels wie Descartes’ und Aristoteles’. Hegel gehört heute<br />
bereits der Geschichte [600] an, die Gegenwart besitzt eine andere Philosophie und hat die<br />
Das Glück liegt nicht im Schein, nicht im abstrakten Traum, sondern in der lebendigen Wirklichkeit; sich gegen<br />
die Wirklichkeit empören, heißt jede Quelle des Lebens in sich abtöten; die Versöhnung mit der Wirklichkeit in<br />
allen Beziehungen und allen Sphären des Lebens ist die Hauptaufgabe unserer Zeit, und Hegel und Goethe sind<br />
die Häupter dieser Versöhnung, dieser Rückkehr aus dem Tode zum Leben. Wir wollen hoffen, daß auch unsere<br />
junge Generation das Reich des Scheins verläßt, daß sie das leere, sinnlose Schwatzen aufgibt und erkennt, daß<br />
wahres Wissen das genaue Gegenteil von Anarchie der Geister und Willkür der Meinungen ist, daß im Reich<br />
des Wissens strenge Disziplin herrscht und daß es ohne diese Disziplin kein Wissen gibt. Wir wollen hoffen,<br />
daß unsere neue Generation sich endlich mit unserer schönen russischen Wirklichkeit befreundet und daß sie<br />
unter Verzicht auf alle leeren Genialitätsansprüche endlich in sich das berechtigte Bedürfnis empfindet, wirkliche<br />
Russen zu sein.“ – * In Klammern – Einschaltungen N. G. Tschernyschewskis. Die Red.<br />
9 Bezieht sich auf Herzens „Briefe über das Studium der Natur“, die in den Jahren 1845 und 1846 in den „Otetschestwennyje<br />
Sapiski“ erschienen. (Deutsch in A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau<br />
1949, S. 103-319.) Lenin schrieb über diese Arbeit: „Der im Jahre 1844 geschriebene erste der ‚Briefe über das<br />
Studium der Natur‘, ‚Empirie und Idealismus‘ – zeigt uns einen Denker, der auch jetzt noch die unzähligen<br />
modernen Naturforscher-Empiriker und die Unmasse der heutigen Philosophen, Idealisten und Halbidealisten,<br />
um Haupteslänge überragt. Herzen kam dicht bis an den dialektischen Materialismus heran und machte hast vor<br />
dem – historischen Materialismus.“ (W. I. Lenin, Werke, 4. Ausg., Bd. 18, S. 10 russ.)<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013