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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 292<br />
[595] Der Inhalt der Hegelschen Philosophie scheint in der Gestalt, die Hegel selbst ihr gegeben<br />
hat und in der sie in den Jahren 1838 und 1839 von den Freunden Stankewitschs bis in die kleinsten<br />
Einzelheiten als unbestrittene Wahrheit hingenommen wurde, im genauen Gegensatz zu der<br />
Denkweise zu stehen, die später mit soviel Feuer und Erfolg von der Kritik der Gogolschen Periode<br />
in den „Otetschestwennyje Sapiski“ (1840-1846) und in unserer Zeitschrift (1847 und<br />
mit Recht stolz darauf, daß sie sehr viel lebendiger war als die bisherige scholastische Methode, und die alte Methode,<br />
alles auf abstrakte Begriffe aufzubauen, wurde mit der Benennung „Scheindenken“, welches dem „abstrakten<br />
Geist oder Verstand“ zugehörte, gebrandmarkt. Alle auf Grund dieses „abstrakten Scheindenkens“ gebildeten<br />
Begriffe und Schlüsse erhielten den Schimpfnamen „Scheinbegriffe“, „Scheinschlüsse“, und die Schüler Hegels<br />
sprachen mit Verachtung von allen jenen Philosophen, die ihre Systeme nicht auf das „spekulative Denken“ aufbauten:<br />
diese Leute verdienten nach der Meinung Hegels und seiner Anhänger nicht einmal den Namen Philosoph,<br />
und ihre Systeme waren „Scheingebilde“, die „abstrakten Schein“ an Stelle lebendiger Wahrheit darboten. Besondere<br />
Empörung lenkte die französische Philosophie auf sich, die, nachdem sie ihr Werk vollendet hatte, die starken<br />
Geister nicht mehr beschäftigte, zum Tummelplatz für Phantasten und Schwätzer wurde und wirklich unter Napoleon<br />
und während der Restauration auf klägliche Weise kleinlich und banal wurde. Damals verstand in Frankreich<br />
tatsächlich jedermann unter Philosophie alles mögliche dumme Zeug, das ihm gerade in den Kopf kam, vermengte<br />
dieses dumme Zeug willkürlich mit eilends zusammengekramten fremden Gedanken und rief sich dann als Genie<br />
und Schöpfer eines neuen philosophischen Systems aus. Gegen diese Phantasien, die mit wissenschaftlichem Ernst<br />
[596] nichts zu tun haben, richtete sich denn auch vorwiegend das Vorwort zu den Reden Hegels, das dem „Moskowski<br />
Nabljudatel“ als Programmartikel diente. Die wesentlichen Stücke dieses Programms sind die folgenden:<br />
„Wer hält sich heutzutage nicht für einen Philosophen, wer redet jetzt nicht mit aller Bestimmtheit davon, was<br />
Wahrheit ist und worauf die Wahrheit beruht Jedermann möchte gern sein eigenes Privatsystem haben; wer<br />
nicht auf seine eigene Art und nach seiner privaten Willkür denkt, der hat keinen selbständigen Geist und ist ein<br />
farbloser Mensch; wer keine eigene kleine Idee ausgeheckt hat, der ist kein Genie, der ist nicht tief, und heutzutage<br />
stößt man doch, wohin man sich auch wendet, überall auf Genies. Aber was haben eigentlich diese Genies<br />
von eignen Gnaden erdacht, welche Früchte haben ihre tiefen Ideen und Ansichten getragen, was haben sie<br />
vorwärtsgebracht, was haben sie wirklich getan<br />
‚Nur tüchtig Lärm gemacht, Bruderherz‘, antwortet Repetilow an ihrer Statt in Gribojedows Komödie. Ja, Lärm,<br />
leeres Geschwätz, das ist das einzige Ergebnis dieser schrecklichen, sinnlosen Anarchie der Geister, an der unsere<br />
neue Generation, diese abstrakte, gespensterhafte, der Wirklichkeit völlig fernstehende Generation hauptsächlich<br />
krankt; und dieser ganze Lärm und dieses ganze Geschwätz läuft unter dem Namen Philosophie. Ist es<br />
da verwunderlich, wenn das gescheite, wirkliche russische Volk sich durch dieses Feuerwerk von Worten ohne<br />
Inhalt und von Gedanken ohne Sinn nicht blenden läßt Ist es verwunderlich, wenn es der Philosophie nicht<br />
traut, die sich ihm von einer so ungünstigen, trügerischen Seite darstellt Bis heute gelten philosophisch und<br />
abstrakt, eingebildet, wirklichkeitsleer als ein und dasselbe: wer sich mit Philosophie befaßt, hat notwendig von<br />
der Wirklichkeit Abschied genommen und wandelt mit dieser krankhaften Entfremdung von jeder natürlichen<br />
und geistigen Wirklichkeit in irgendwelchen phantastischen, frei erfundenen, nicht existierenden Welten herum<br />
oder zieht gegen die wirkliche Welt zu Felde und bildet sich ein, er könne ihr mächtiges Dasein mit seinen illusorischen<br />
Kräften zertrümmern, bildet sich ein, das ganze Wohl der Menschheit bestehe in der Verwirklichung<br />
der endlichen (bornierten, einseitigen)* Thesen (Urteile)* seines endlichen (bornierten, einseitigen, abstrakten)*<br />
Verstandes und der endlichen Ziele seiner endlichen Willkür, und weiß dabei nicht, der Arme!, daß die<br />
wirkliche Welt hoch über seiner kläglichen und machtlosen Individualität (Persönlichkeit)* steht... Sein Leben<br />
ist eine Kette ständiger [597] Qualen, ständiger Enttäuschungen, ein Kampf ohne Ausgang und Ende; und dieser<br />
innere Zerfall, diese innere Zerrissenheit sind die notwendige Folge davon, daß der endliche Verstand, für den<br />
es nichts Konkretes gibt und der alles Leben in Tod verwandelt, abstrakt und trügerisch ist. Und ich wiederhole<br />
noch einmal: das allgemeine Mißtrauen in die Philosophie ist durchaus begründet, weil das, was man uns bisher<br />
als Philosophie vorgesetzt hat, den Menschen zerstört, statt ihn zu beleben, statt ihn zu einem tätigen und nützlichen<br />
Glied der Gesellschaft zu machen.<br />
Diese Krankheit hat unglücklicherweise auch bei uns Verbreitung gefunden... Die Inhaltslosigkeit unserer Erziehung<br />
ist die Hauptursache für das Scheinleben unserer neuen Generation. Anstatt im jun. gen Menschen den<br />
Funken Gottes zu entzünden..., anstatt ihm ein tiefes, ästhetisches Gefühl einzubilden, welches den Menschen<br />
vor allen schmutzigen Seiten des Lebens bewahrt, statt alles dessen stopft man ihn mit leeren, sinnlosen französischen<br />
Phrasen voll... Anstatt den jungen Geist an wirkliche Arbeit zu gewöhnen, anstatt Liebe zum Wissen in<br />
ihm zu entfachen..., erzieht man ihn zur Verachtung der Arbeit... Da haben wir die Quelle unser aller Krankheit,<br />
unseres Scheindaseins! Man schlage einen beliebigen russischen Gedichtband auf und man sehe nach, was unseren<br />
Poeten von eigenen Gnaden für ihre tägliche Begeisterung als Nahrung dient...<br />
Der eine erklärt, daß er nicht ans Leben glaubt, daß er enttäuscht ist; ein anderer, daß er nicht an die Freundschaft<br />
glaubt; ein dritter, daß er nicht an die Liebe glaubt...<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013