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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 291<br />
der Philosophie, die Epoche, in der Hegel als unfehlbarer Deuter der Philosophie galt, in der<br />
jedes Wort Hegels eine nicht zu bezweifelnde Wahrheit war, und jeder Ausspruch des großen<br />
Lehrers von seinen neuen Schülern im buchstäblichen Sinn aufgenommen wurde, wobei man<br />
sich weder die Mühe gab, diese Wahrheiten nachzuprüfen, noch ahnte, daß Hegel inkonsequent<br />
war, sich selbst auf Schritt und Tritt widersprach, und daß der konsequente Denker,<br />
wenn er sich seine Prinzipien aneignete, zu Schlußfolgerungen kommen mußte, die von den<br />
Schlußfolgerungen Hegels völlig verschieden waren. Später, als man das herausfand, lehnten<br />
die besten der einstigen Anhänger Hegels bei uns seine falschen Schlußfolgerungen ab, und<br />
die deutsche Philosophie zeigte sich in völlig anderem Lichte. Aber das war bereits eine ganz<br />
andere Epoche, die Epoche der „Otetschestwennyje Sapiski“, und von ihr wird im nächsten<br />
Aufsatz die Rede sein, jetzt aber wollen wir zusehen, was das Hegelsche System darstellte,<br />
als dessen glühender Apostel der „Moskowski Nabljudatel“ auftrat.<br />
Das Programm der Zeitschrift bildete ihr erster Aufsatz – das Vorwort zu einer Übersetzung<br />
der „Gymnasialreden“ Hegels („Moskowski Nabljudatel“, XVI, S. 5-20). 8 Wir geben unter<br />
dem Strich die wichtigsten Stellen dieses Vorworts wieder, wobei wir eine Erklärung der<br />
Fachausdrücke der [594] Hegelschen Sprache beifügen, weil diese Ausdrücke den nicht an<br />
sie gewöhnten Lesern Schwierigkeiten bereiten könnten: sie werden dabei, hoffen wir, erkennen,<br />
daß die Sache ganz einfach und verständlich und daß das verschiedentliche Gerede über<br />
eine angebliche Dunkelheit der Hegelschen Philosophie ein bloßes Vorurteil ist. Man braucht<br />
nur den Sinn einiger Fachausdrücke zu kennen, und die transzendentale Philosophie wird für<br />
die Menschen unserer Zeit ganz einfach und klar. *<br />
8 Der Verfasser dieses „Vorworts“ war M. Bakunin; von ihm stammt auch die Übersetzung der „Gymnasialreden“<br />
Hegels selber. Als Tschernyschewski die „Skizzen“ schrieb, saß Bakunin bereits als Gefangener in der<br />
Festung Schlüsselburg, und es war durch die Zensur streng verboten, seinen Namen zu nennen.<br />
* Der Geist ist nur eine der Fähigkeiten des Menschen; das Wissen ist nur eine seiner Bestrebungen; deshalb befriedigt<br />
die bloße geistige Beschäftigung mit abstrakten Fragen den Menschen nicht: er will auch lieben und leben,<br />
will nicht nur wissen, sondern auch genießen, nicht nur denken, sondern auch handeln. Heutzutage versteht das<br />
jedermann – das macht der Geist des Jahrhunderts, das ist die Kraft der alles erklärenden Zeit. Im 17. Jahrhundert<br />
jedoch war die Wissenschaft eine Sache der Stubengelehrten, die nur ihre Bücher kannten, nur über gelehrte Fragen<br />
nachdachten, das Leben scheuten und nichts von den Alltagsangelegenheiten verstanden. Als das Leben im 18.<br />
Jahrhundert seine Rechte mit solcher Kraft geltend machte, daß selbst die deutschen Gelehrten erwachten, erkannten<br />
sie die Unzulänglichkeit der bisherigen philosophischen Methode, die alles auf Spekulationen aufbaute und<br />
alles mit dem Maßstab abstrakter Begriffe maß. Sie konnten jedoch keinen Schritt aus ihren staubigen Arbeitsstuben<br />
heraustun, um auf das Forum des Lebens zu treten; sie waren noch allzu weit von dem Gedanken entfernt, daß<br />
alle natürlichen Fähigkeiten und Bestrebungen des Menschen Zusammenwirken und einander behilflich sein müssen,<br />
um die Probleme der Wissenschaft und des Lebens zu lösen. Ihnen schien es genügend, die Methode der Spekulation<br />
zu ändern und dabei Herz und Leib des Menschen wie bisher unbeachtet zu lassen. Sie waren der Meinung,<br />
der Geist sei nicht deshalb außerstande, die lebendige Wahrheit in ihrer ganzen Fülle zu erfassen, weil der<br />
Mensch mit dem Kopf allein, ohne Brust und Arme, ohne Herz und Empfindung nicht auskommen kann; sie kamen<br />
auf den Gedanken, einmal zu versuchen, ob der Kopf nicht ohne die Hilfe der übrigen Glieder des lebendigen<br />
Organismus auskommen könne, wenn sich nämlich der Kopf einmal an die Dinge heranmachte, die Sache des<br />
Herzens, des Magens und der Hände sind – und der Kopf erfand wirklich das „spekulative Denken“. Das Wesen<br />
dieses Versuchs bestand darin, daß der Geist unter Ablehnung der abstrakten Begriffe bemüht war, in sogenannten<br />
„konkreten“ Begriffen zu denken, zum Beispiel beim Nachdenken über den Menschen seine Schlußfolgerungen<br />
nicht auf den bisherigen Satz aufzubauen: „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen“, sondern auf die Vorstellung<br />
vom wirklichen Menschen, der Arme und Beine, Herz [595] und Magen hat. Das war ein großer Schritt vorwärts.<br />
Hegel ist der letzte und wichtigste der Denker, die bei dieser ersten Phase der Verwandlung des Stubengelehrten<br />
in einen lebendigen Menschen stehenblieben. Natürlich war das System, das auf dieser Art der Ersetzung<br />
der früheren abstrakten Begriffe durch eine lebendigere Betrachtungsweise beruhte, sehr viel frischer und vollständiger<br />
als die bisherigen, völlig abstrakten Systeme, die sich nicht mit den in der Wirklichkeit existierenden Menschen<br />
befaßten, sondern mit Scheinwesen, die die frühere Denkmethode geschaffen hatte, welche im Menschen<br />
keine anderen Fähigkeiten und Bestrebungen anerkannte als den Geist und von allen Organen des Geschöpfes<br />
Mensch nur das Gehirn der Aufmerksamkeit für würdig befand. Deshalb war die „transzendentale“ oder „spekulative“<br />
Denkweise (die ihren Spekulationen Begriffe von wirklichen Gegenständen zugrunde zu legen bestrebt war)<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013