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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 290<br />
dafür, in ihrem künstlerischen Schaffen „eine lebendige Idee durchzusetzen“ (wie es die Kritik<br />
der Gogolschen Periode zu nennen liebte). An diesem Mangel – dem Fehlen eines Bandes<br />
zwischen der Lebensauffassung, der Gesinnung des Autors und seinen Werken – litt unsere<br />
ganze Literatur bis zu der Zeit, da sie sich unter dem Einfluß Gogols und Belinskis wandelte.<br />
Die literarische Abteilung des „Moskowski Nabljudatel“ ist wohl die erste Stelle, wo eine<br />
dauernde Harmonie der Gesinnung des Menschen mit dem Sinn seiner Kunstwerke aufkeimte<br />
– eine Harmonie, die heutzutage in unserer Literatur herrschend ist und sie so stark und lebendig<br />
macht. Die jungen Dichter und Belletristen, die an der Zeitschrift mitarbeiteten,<br />
schrieben genau über das, was sie bewegte und beschäftigte, und nicht über irgendwelche<br />
ihnen von anderen Dichtern zugetragene Sujets, deren Sinn für die Imitatoren, die angestrengt<br />
die äußere Form fremdländischer Werke kopierten, häufig völlig unverständlich blieb: diese<br />
neuen Dichter verstanden, was sie schrieben – eine Eigenschaft, die bei unseren früheren<br />
Schriftstellern sehr selten anzutreffen ist. Es gab damals nur sehr wenige Ausnahmen von der<br />
allgemeinen Regel, Sachen zu schreiben, die entweder [592] überhaupt keinen lebendigen<br />
Sinn hatten, oder Werke, deren Sinn dem Autor selbst ein Buch mit sieben Siegeln war, und<br />
der „Moskowski Nabljudatel“ war die erste Zeitschrift, in der Gedanke und Poesie miteinander<br />
harmonierten und in deren literarischen Abteilung sich ständig bewußte Tendenzen spiegelten.<br />
Es war die erste der Zeitschriften von der heute üblichen Art, in denen Dichtung, Prosa<br />
und Kritik einmütig und einander unterstützend auf ein gemeinsames Ziel zusteuern. Ein<br />
tiefes Bedürfnis nach Wahrheit, nach dem Guten einerseits und andererseits eine frische und<br />
gesunde Bereitschaft, alles zu lieben, was das wirkliche Leben an Befriedigendem zu bieten<br />
hat, eine Bevorzugung des wirklichen Lebens vor abstrakter Phantasterei einerseits und andererseits<br />
eine stark ausgeprägte Sympathie für alles, was im Streben der Phantasie gesunder<br />
Ausdruck eines echten Bedürfnisses nach uneingeschränktem Lebensgenuß ist – diese<br />
Grundzüge der kritischen Gedankenrichtung des „Moskowski Nabljudatel“ machen in dieser<br />
Zeitschrift auch das kennzeichnende Wesen seiner Literaturabteilung aus. Das Streben, das<br />
ihre Dichtungen und Prosawerke beseelte, ist offensichtlich von einem philosophischen Gedanken<br />
getragen, der herrschend über allem steht.<br />
Wirklich hatte eine philosophische Weltanschauung die ungeteilte Herrschaft über die Geister<br />
jenes Freundeskreises, dessen Organ die letzten Hefte des „Moskowski Nabljudatel“ waren.<br />
Diese Männer lebten ganz entschieden nur der Philosophie, redeten, wenn sie zusammenkamen,<br />
Tag und Nacht nur von ihr, betrachteten alles, entschieden alles vom Standpunkt der<br />
Philosophie. Es war damals die Zeit, wo wir eben Hegel kennengelernt hatten, und der Enthusiasmus,<br />
den die für uns neuen, mit der wunderbaren Kraft der Dialektik im System dieses<br />
Denkers entwickelten tiefen Wahrheiten erregten, mußte ganz natürlich für einige Zeit die<br />
Oberhand über alle anderen Bestrebungen der Männer der jungen Generation gewinnen, die<br />
sich ihrer Pflicht bewußt wurden, zu Herolden einer bei uns unbekannten Wahrheit zu werden,<br />
die, wie es ihnen in der Glut der ersten Begeisterung vorkam, alles erleuchtete, alles versöhnte<br />
und dem Menschen sowohl eine unerschütterlich feste Innenwelt als auch frische<br />
[593] Kräfte für eine Tätigkeit nach außen hin gab. Die Hauptbedeutung des „Moskowski<br />
Nabljudatel“ besteht darin, daß er ein Organ der Hegelschen Philosophie war.<br />
Philosophisches Streben ist heutzutage in unserer Literatur und Kritik fast ganz in Vergessenheit<br />
geraten. Wir wollen nicht entscheiden, was Literatur und Kritik durch diese Vergeßlichkeit<br />
gewonnen haben – gewonnen haben sie wohl nichts, dabei aber sehr viel verloren;<br />
aber wie wir uns auch zu der Frage stellen, welche Bedeutung die philosophische Weltanschauung<br />
für unsere heutige Zeit hat, wird jedermann zugeben, daß die Beherrschung unserer<br />
ganzen geistigen Tätigkeit durch die Philosophie zu Beginn der gegenwärtigen Periode unserer<br />
Literatur eine bemerkenswerte historische Tatsache ist, die aufmerksam studiert zu werden<br />
verdient. Der „Moskowski Nabljudatel“ repräsentiert diese erste Epoche der Herrschaft<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013