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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 29<br />
heute im Bereich des Wissens ab, wo es einigen Wissenschaften gelungen ist, sich aus einer<br />
kümmerlichen Situation zu hoher Vollkommenheit, zu gelehrtem Reichtum und zu geistigen<br />
Würden emporzuarbeiten. Diese Reichen, die ihren armen Verwandten zu Hilfe kommen,<br />
sind die Mathematik und die Naturwissenschaften. Die Mathematik hatte bereits seit langem<br />
eine gute Stellung inne, sie sorgte sich jedoch lange Zeit hindurch einzig um ihre nächste<br />
Verwandte, die Astronomie. An die viertausend Jahre, wenn nicht mehr, sind mit diesem Hin<br />
und Her vergangen. Schließlich, zur Zeit des Kopernikus, hatte die Mathematik die Astronomie<br />
auf die Beine gestellt, und seit Newton hatte diese jüngere Schwester eine blendende<br />
Stellung in der Welt des Geistes inne. Kaum war die Mathematik so weit, daß sie sich nicht<br />
mehr Tag und Nacht um die kümmerliche Situation ihrer Schwester Astronomie zu sorgen<br />
brauchte, kaum hatte sie sie einigermaßen untergebracht, so daß sie auch an die anderen<br />
Verwandten denken konnte, da nahm sie sich der verschiedenen Glieder jener Familie an, die<br />
bisher unter dem Namen Physik das Familienstammgut ungeteilt beherrscht hatte: die Akustik,<br />
die Optik und ein paar andere Schwestern, die alle den Familiennamen Physik trugen,<br />
wurden dabei von der Mathematik besonders freundlich bedacht; in ziemlich gute Positionen<br />
kamen auch viele andere Glieder dieser zahlreichen Familie. Diesmal ging es bereits [117]<br />
viel schneller als bei der Herausführung der Astronomie aus ihrer kläglichen Situation: die<br />
Mathematik hatte inzwischen bei ihren Bemühungen um ihre nächste Verwandte gelernt, wie<br />
man anderen hilft, und war außerdem nicht mehr allein auf sich angewiesen, sondern besaß in<br />
dieser Verwandten, der Astronomie, einen guten Adjutanten. Als sie zu zweit die zahlreichen<br />
Herrschaften der Familie Physik, die bis dahin in kläglichstem Elend dahinvegetiert und sich<br />
den scheußlichsten wissenschaftlichen Lastern ergeben hatten, in eine einigermaßen menschliche<br />
Verfassung gebracht hatten, konnte die Mathematik sich bereits auf einen ganzen<br />
Stamm stützen und wurde zur Präsidentin eines ziemlich großen, blühenden Staatswesens.<br />
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war dieser Geistesstaat in der gleichen Verfassung wie<br />
die Vereinigten Staaten zu annähernd der gleichen Zeit in der politischen Welt. Seither wachsen<br />
diese beiden Gesellschaften gleich schnell. Fast jedes Jahr kommt irgendein neues Gebiet<br />
zu dem jungen Nordamerikanischen Staatenbund hinzu, verwandelt sich aus einer öden Wüste<br />
in einen blühenden Staat, und immer weiter und weiter verdrängt ihr aufgeklärtes und<br />
tatkräftiges Volk jene kümmerlichen Stämme, die nichts von der Zivilisation wissen wollen,<br />
und nimmt immer mehr andere Stämme, die die Zivilisation suchen, sie jedoch ohne fremde<br />
Hilfe nicht finden konnten, in ihren Bund auf: schon haben sich die Franzosen von Louisiana<br />
und die Spanier von Nordmexiko angeschlossen und haben in wenigen Jahren den Geist der<br />
neuen Gesellschaft so in sich aufgenommen, daß man sie heute nicht von den Nachkommen<br />
Washingtons und Jeffersons unterscheiden kann. Millionen versoffner Iren und nicht weniger<br />
kläglicher Deutscher sind in der Union zu anständigen und wohlhabenden Menschen geworden.<br />
9 Genau so hat der Bund der exakten Wissenschaften unter Führung der Mathematik,<br />
d. h. gelenkt von Zahl, Maß und Gewicht, seine Herrschaft mit jedem Jahr auf neue Wissensgebiete<br />
ausgedehnt und wächst durch neuen Zustrom. Nach der Chemie haben sich ihm nach<br />
und nach alle Wissenschaften von den Pflanzen- und Tierorganismen angeschlossen: die<br />
Physiologie, die vergleichende Anatomie, verschiedene Zweige der Botanik und Zoologie;<br />
jetzt treten [118] ihm die moralischen Wissenschaften bei. Mit ihnen geschieht gegenwärtig<br />
das gleiche, was wir an hochmütigen, aber in Elend und Unglück steckengebliebenen Menschen<br />
beobachten können, wenn irgendein entfernter Verwandter zu Reichtum gelangt, der<br />
sich nicht wie sie stolz auf seine hohe Abstammung und seine einzigartigen Tugenden versteift,<br />
sondern ein einfacher, ehrlicher Mensch ist; die aufgeblasenen Hidalgos geben sich<br />
9 In vielen seiner Arbeiten (darunter auch im „Anthropologischen Prinzip in der Philosophie“ und in den „Skizzen<br />
zum wissenschaftlichen Verständnis einiger Fragen der Weltgeschichte“ u. a.) kritisiert Tschernyschewski<br />
scharf den verlogenen Charakter der amerikanischen „Demokratie“, hinter der in Wirklichkeit die Herrschaft der<br />
Sklavenhalter steckt.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013