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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 284<br />
Verfolgungen Aristoteles zwangen, sich zu vergiften. Auf dem Sterbebette übergab Theophrastos<br />
die Schriften zusammen mit den Büchern der Bibliothek des Aristoteles einem gewissen<br />
Neleus aus Skepsis. Neleus verkaufte die Bibliothek des Aristoteles an den König von<br />
Ägypten, Ptolemäos Philadelphos, von den Werken Aristoteles wollte er sich jedoch nicht<br />
‚trennen, sie blieben in seinem Besitz. Die Erben des Neleus waren Ignoranten, die gar nicht<br />
daran dachten, Aristoteles u verwerten, sie hatten aber von Neleus gehört, daß diese Bücher<br />
äußerst wertvoll seien; da sie im Staatsgebiet von Pergamon lebten, befürchteten sie, die Könige<br />
von Pergamon, die mit den Ptolemäern in der Anlage einer ebenso riesigen und vollständigen<br />
Bibliothek wie der alexandrinischen wetteiferten und daher überall nach Büchern<br />
fahndeten, könnten ihnen diese Schätze umsonst oder gegen nur geringe Entschädigung abnehmen;<br />
sie mußten sie geheimhalten – und so versteckten sie die Werke des Aristoteles n<br />
einem Keller. Dort blieben sie lange verborgen. Schließlich erfuhr ein reicher athenischer<br />
Büchersammler, Apellikon von Teos, zufällig, wo sich die aristotelischen Schriften befanden,<br />
und erwarb sie für einen sehr hohen Preis. Das war bereits zu der Zeit Mithridates des Großen:<br />
sie mußten also hundert oder hundertfünfzig Jahre in dem feuchten Keller gelegen haben.<br />
Apellikon fand, daß sie unter der Feuchtigkeit des Kellers sehr gelitten hatten; außerdem<br />
waren sie von Würmern zerfressen. Wie stark die Beschädigung gewesen sein muß, kann<br />
man sich vorstellen, wenn man daran denkt, wie lange sie der Zerstörung ausgesetzt waren.<br />
Nachdem Apellikon die Schriften nach Athen gebracht hatte, ordnete er an, sie abzuschreiben,<br />
wobei er die durch Feuchtigkeit und Würmer verdorbenen Stellen auf Grund von Vermutungen<br />
ergänzen ließ. Bei der Eroberung Athens durch Sulla fiel Apellikons Bibliothek<br />
dem Sieger in die Hände und wurde nach Rom gebracht. Der in Rom lebende griechische<br />
Gelehrte Tyrannon erhielt von Sulla die Erlaubnis, seine Bibliothek zu benutzen, und ließ, als<br />
er dort die aristotelischen Schriften fand, mehrere Abschriften herstellen, die [582] er unter<br />
anderem an Cicero, Lukullus und Andronikos von Rhodos schickte. Andronikos gab sich alle<br />
Mühe, die ihm zugesandte Abschrift in eine gewisse Ordnung zu bringen: er schied die Bücher<br />
ihrem Inhalt nach voneinander, nahm weitere Verbesserungen am Text vor, und in seiner<br />
Redaktion fanden die aristotelischen Schriften unter den Gelehrten Verbreitung. Man<br />
muß annehmen, daß Apellikon zusammen mit vollendeten Werken auch unvollendete erworben<br />
hatte; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte auch Aristoteles selbst einige verschiedene<br />
Abschriften je ein und desselben Werkes in verschiedenen Redaktionen aufbewahrt; darunter<br />
befanden sich wahrscheinlich auch Auszüge, erste Niederschriften u. dgl. Einen solchen Auszug<br />
oder eine erste Niederschrift stellt nun aller Wahrscheinlichkeit nach auch die auf uns<br />
gekommene „Poetik“ dar. Einige Gelehrte haben versucht, diese Erzählung zu widerlegen;<br />
ihre Einwände, sind jedoch schwach, und sie kann weiter als sicher gelten. 7 Die in Unordnung<br />
hinterlassenen Werke Aristoteles‘ sind also, halb verschimmelt und von Würmern zernagt,<br />
zweimal ergänzt und korrigiert worden. Kann es hiernach einen Zweifel geben, daß ihr<br />
Text dringend der Reinigung und der kritischen Verbesserung bedarf<br />
Wirklich sind die Werke des Aristoteles in einem außerordentlichen Durcheinander auf uns<br />
gekommen. Viele von ihnen sind verlorengegangen; andere sind aus regellos zusammengesuchten<br />
Teilen unglücklich zusammengestellt und bilden eine Mischung aus Rohentwürfen,<br />
unvollendeten Bruchstücken, Auszügen und gefälschten Fragmenten. Um ein schlagendes<br />
Beispiel anzuführen, erinnern wir an den Zustand des Sammelbandes der „Die Metaphysik des<br />
Aristoteles“ genannt wird und aus 14 Büchern besteht. Das zweite und dritte Buch stammen<br />
aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Aristoteles Wenn das erste doch Von ihm stammen<br />
sollte, so hat es mit den übrigen nichts zu tun. Die „Metaphysik“ beginnt eigentlich erst mit<br />
dem vierten Buch. Auch das fünfte Buch sollte ein besonderes Werk bilden und ist nur irrtüm-<br />
7 Spätere Untersuchungen haben Tschernyschewskis Behauptung daß die „Poetik“ in verstümmeltem Zustand<br />
auf uns gekommen ist, bestätigt.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013