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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 283<br />

Wir haben uns bemüht zu zeigen, daß bei aller Einseitigkeit einiger Thesen, bei aller Kleinlichkeit<br />

vieler angeführter Tatsachen und Schlußfolgerungen und – was ihr Hauptmangel ist –<br />

bei einem Überwiegen des Formalismus „ über die lebendige Lehre vom Schönen in der<br />

Dichtung als Folge eines durch Wissenschaft entwickelten Talents und einer edlen Denkweise<br />

(Forderungen, die bei Plato wesentlich stärker ausgesprochen sind als bei Aristoteles) –<br />

daß ungeachtet aller dieser Mängel Aristoteles‘ Werk „Über die Dichtkunst“ * auch für die<br />

moderne Theorie große, lebendige Bedeutung besitzt und mit Recht als Grundlage für alle<br />

späteren ästhetischen Auffassungen bis zu Wolff und Baumgarten, ja bis zu Lessing und Kant<br />

gedient hat (die Theorien Hogarths, Burkes und Diderots hatten, da sie wenig Anklang fanden,<br />

nur geringe Bedeutung). Hieraus ist ersichtlich, daß Herr Ordynski sehr gut daran getan<br />

hat, als er den Entschluß faßte, ein für die Wissenschaft so wichtiges Werk für die russische<br />

Literatur zu erschließen. Er hätte wirklich schwerlich eine glücklichere Wahl treffen können.<br />

Von einem ebenso richtigen Takt hat sich Herr Ordynski bei der Wahl der Gegenstände<br />

früherer Arbeiten: „Über die ‚Charaktere‘ des Theophrastos“, „Über die Komödien des Aristophanes“<br />

leiten lassen; ebenso glücklich war auch seine Absicht, Homer in Prosa zu übersetzen<br />

– ein Gedanke, der im Prinzip außerordentlich richtig ist, da selbst die besten russischen<br />

Hexameter ein für die kindlich einfache Seele Homers noch allzu schweres und verworrenes<br />

Gewand sind. Man muß auch der Gründlichkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen,<br />

mit der Herr Ordynski an jede seiner Arbeiten herangegangen ist. So muß man auch in seiner<br />

neuen Untersuchung eine außerordentlich gründlich ausgeführte Arbeit [580] sehen Herr<br />

Ordynski hat den Text der aristotelischen „Poetik“ mit mustergültiger Akkuratesse studiert;<br />

er hat die Vorarbeiten der besten Herausgeber und Kommentatoren benutzt und hat mit<br />

wahrhaft gelehrter Bescheidenheit stets die Quellen angegeben, aus der er schöpfte. Die<br />

Übersetzung des Textes ist nicht aufs Geratewohl und übereilt gemacht: Herr Ordynski hat<br />

jedes Wort auf die Waage gelegt und jeden Ausdruck wohl durchdacht. Mit einem Wort: die<br />

Übersetzung und die Kommentare Herrn Ordynskis erfüllen in ihrer Mehrzahl die Bedingungen,<br />

von denen der Wert einer Arbeit abhängt. Dabei wird man jedoch voraussehen müssen,<br />

daß seine Übersetzung der „Poetik“ ziemlich wenig Anklang selbst bei jenem kleinen Teil<br />

des Publikums finden wird, das sich speziell für klassische Literatur interessiert; andere Leser<br />

wird die Übersetzung entschieden abstoßen. Und auch die Kommentare Herrn Ordynskis, die<br />

mit großer Sachkenntnis und Aufmerksamkeit abgefaßt sind, werden dem russischen Leser<br />

kaum großen Nutzen bringen. Die Übersetzung Herrn Ordynskis ist sehr schwerfällig und<br />

dunkel, und die Kommentare dienen fast nur dem Beweis der persönlichen Auffassungen des<br />

Übersetzers, der behauptet, daß Aristoteles‘ Buch „Über die Dichtkunst“ in vollem Umfang<br />

und nicht in fragmentarischen Auszügen auf uns gekommen sei, wie man gemeinhin annimmt,<br />

und daß der Text dieses Werks oder dieses Auszugs nicht verdorben sei und keiner<br />

Korrekturen bedürfe. Dieser Frage müssen wir uns jetzt noch zuwenden.<br />

Bedarf der Text der „Poetik“ des Aristoteles der Korrektur In welchem Maße der Text der<br />

aristotelischen Schriften verdorben ist, kann auch der Nichtphilologe aus dem Schicksal erkennen,<br />

das diese Schriften vor der Zeit hatten, wo sie allgemein bekannt wurden, was erst<br />

zweieinhalb Jahrhunderte nach dem Tode Aristoteles’ geschah. Diese Geschichte ist geradezu<br />

spannend, und wir wollen sie deshalb in ein paar Worten erzählen. Aristoteles selbst hat seine<br />

Werke zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht; nach seinem Tode gingen sie in die Hände<br />

seines Schülers Theophrastos über, der sie ebenfalls nicht veröffentlichte, vielleicht deshalb,<br />

weil Aristoteles gleich Anaxagoras gegen Ende seines Lebens [581] schweren Verfolgungen<br />

deswegen ausgesetzt war, da er die Vielgötterei ablehnte; man nimmt sogar an, daß diese<br />

* Wir halten die Übersetzung des Titels der aristotelischen Schrift περί πоιητιχής mit „Über die Dichtkunst“,<br />

wobei τέχνης zu ergänzen ist (vgl. den Titel τέχνη ρητоριχή), für richtiger als die von Herrn Ordynski vorgeschlagene<br />

Übersetzung „Über die Poesie“.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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