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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 282 Schließlich eine letzte Bemerkung: den Hauptunterschied zwischen den homerischen Epen und den späteren Tragödien sieht Aristoteles darin, daß die „Ilias“ und die „Odyssee“ wesentlich länger sind als die Tragödien und nicht eine so strenge Einheit der Handlung haben, wie sie in der Tragödie nötig ist: Episoden sind in der Tragödie unangebracht, im Epos tun sie der Schönheit des Ganzen keinen Schaden. Was die Tendenz, den Geist und den Charakter des Inhaltes betrifft, sieht Aristoteles keinen Unterschied zwischen den Tragödien und den homerischen Epen (den Unterschied in der Darstellungsweise sieht er natürlich sehr gut). Er nimmt sogar, ganz im Gegenteil, offenbar eine wesentliche Identität des Inhalts bei Epos und Tragödie an, indem er sagt, man könnte aus der „Ilias“ und der „Odyssee“ mehrere Tragödien machen. Soll man ein Versehen des Aristoteles darin erblicken, daß er hierin nicht einer Meinung mit den modernen Ästhetikern ist, die einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Inhalt des Epos und des Dramas annehmen Vielleicht; eher jedoch könnte man meinen, daß unsere Ästhetiker einen allzu tiefen inhaltlichen Unterschied zwischen der epischen und dramatischen Dichtung machen, die sich bei den Griechen voneinander offenbar mehr durch die Form als durch den Inhalt unterschieden. Wirklich müßte man, wenn man unvoreingenommen über diese Frage nachdenkt (aber unsere Ästhetiker haben ein ausgesprochenes Vorurteil zugunsten des Dramas, „der höchsten Form der Dichtung“) beinahe zu dem Schluß kommen, daß, wenn sich die Sujets vieler Erzählungen und Romane nicht für Dramen eignen, es kaum ein dramatisches Werk gibt, dessen Sujet nicht ebensogut (oder noch besser) in epischer Form erzählt werden könnte. Und kommt die Tatsache, daß einige Erzählungen und Romane (die sehr gut sind, aber wenig Handlung und viele überflüssige Episoden und Redereien enthalten, was natürlich in einer epischen Dichtung nicht als Vorzug zu betrachten ist) nicht in brauchbare Theaterstücke verwandelt werden konnten, nicht hauptsächlich daher, daß die Langeweile ‚– die sehr erträglich und teilweise sogar [578] angenehm ist, wenn man zur passenden Stunde mit sich allein ist –‚ unerträglich wird, sobald sie sich durch die Langeweile von tausenden Zuschauern verstärkt, die sich, ebenso wie Sie, in der dumpfen Atmosphäre des Theaters langweilen Nimmt man noch ein Dutzend anderer Umstände gleicher Art hinzu – zum Beispiel, daß Arrangierungen überhaupt selten Erfolg haben, daß der Erzähler an keinerlei Bühnenbedingungen gedacht hat, daß die dramatische Form an und für sich einengend wirkt –‚ so werden wir sehen, daß die mangelnde Eignung vieler, durch Umarbeitung von Erzählungen für die Bühne entstandener Stücke sich genügend erklären läßt, ohne daß man einen wesentlichen Unterschied zwischen dem epischen und dem dramatischen Sujet anzunehmen braucht. Dieser „letzten“ Bemerkung erlauben wir uns noch eine, dieses Mal wirklich allerletzte hinzuzufügen. Aristoteles stellt die Tragiker über den Homer und findet, obwohl er auch in dessen Dichtungen jedenfalls alle möglichen hohen Werte anerkennt, dennoch, daß die Tragödien des Sophokles und des Euripides der Form nach unvergleichlich kunstvoller (und dem Inhalt nach, hätte er hinzufügen können, viel tiefer) sind. Sollten nicht auch wir, diesem schönen Beispiel folgend, Shakespeare ohne falsche Unterwürfigkeit betrachten Für Lessing war es natürlich, daß er ihn über alle Dichter stellte, die es auf der Erde gab, und daß er seine Tragödien für die Herkulessäulen der Kunst hielt. Aber jetzt, wo wir Lessing selber, Goethe, Schiller und Byron haben, und wo kein Grund mehr besteht, gegen die allzu eifrigen Nachahmer der französischen Schriftsteller aufzutreten, ist es vielleicht nicht mehr ganz so natürlich, Shakespeare die unumschränkte Herrschaft über unsere ästhetischen Überzeugungen zu lassen und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit als Beispiel alles Schönen seine Tragödien anzuführen, in denen man nur alles schön findet. Hat Goethe nicht zugegeben, daß „Hamlet“ der Bearbeitung bedarf Und hat Schiller etwa schlechten Geschmack gezeigt, wenn er neben Shakespeares „Macbeth“ auch Racines „Phädra“ bearbeitete Dem, was weit zurückliegt, stehen wir vorurteilslos gegenüber; warum zögern wir denn so lange, die [579] jüngste Vergangenheit als ein Jahrhundert der Kunstentwicklung anzuerkennen, die der früheren überlegen ist Hält ihre Entwicklung denn nicht Schritt mit der Entwicklung der Bildung und des Lebens OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 283 Wir haben uns bemüht zu zeigen, daß bei aller Einseitigkeit einiger Thesen, bei aller Kleinlichkeit vieler angeführter Tatsachen und Schlußfolgerungen und – was ihr Hauptmangel ist – bei einem Überwiegen des Formalismus „ über die lebendige Lehre vom Schönen in der Dichtung als Folge eines durch Wissenschaft entwickelten Talents und einer edlen Denkweise (Forderungen, die bei Plato wesentlich stärker ausgesprochen sind als bei Aristoteles) – daß ungeachtet aller dieser Mängel Aristoteles‘ Werk „Über die Dichtkunst“ * auch für die moderne Theorie große, lebendige Bedeutung besitzt und mit Recht als Grundlage für alle späteren ästhetischen Auffassungen bis zu Wolff und Baumgarten, ja bis zu Lessing und Kant gedient hat (die Theorien Hogarths, Burkes und Diderots hatten, da sie wenig Anklang fanden, nur geringe Bedeutung). Hieraus ist ersichtlich, daß Herr Ordynski sehr gut daran getan hat, als er den Entschluß faßte, ein für die Wissenschaft so wichtiges Werk für die russische Literatur zu erschließen. Er hätte wirklich schwerlich eine glücklichere Wahl treffen können. Von einem ebenso richtigen Takt hat sich Herr Ordynski bei der Wahl der Gegenstände früherer Arbeiten: „Über die ‚Charaktere‘ des Theophrastos“, „Über die Komödien des Aristophanes“ leiten lassen; ebenso glücklich war auch seine Absicht, Homer in Prosa zu übersetzen – ein Gedanke, der im Prinzip außerordentlich richtig ist, da selbst die besten russischen Hexameter ein für die kindlich einfache Seele Homers noch allzu schweres und verworrenes Gewand sind. Man muß auch der Gründlichkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen, mit der Herr Ordynski an jede seiner Arbeiten herangegangen ist. So muß man auch in seiner neuen Untersuchung eine außerordentlich gründlich ausgeführte Arbeit [580] sehen Herr Ordynski hat den Text der aristotelischen „Poetik“ mit mustergültiger Akkuratesse studiert; er hat die Vorarbeiten der besten Herausgeber und Kommentatoren benutzt und hat mit wahrhaft gelehrter Bescheidenheit stets die Quellen angegeben, aus der er schöpfte. Die Übersetzung des Textes ist nicht aufs Geratewohl und übereilt gemacht: Herr Ordynski hat jedes Wort auf die Waage gelegt und jeden Ausdruck wohl durchdacht. Mit einem Wort: die Übersetzung und die Kommentare Herrn Ordynskis erfüllen in ihrer Mehrzahl die Bedingungen, von denen der Wert einer Arbeit abhängt. Dabei wird man jedoch voraussehen müssen, daß seine Übersetzung der „Poetik“ ziemlich wenig Anklang selbst bei jenem kleinen Teil des Publikums finden wird, das sich speziell für klassische Literatur interessiert; andere Leser wird die Übersetzung entschieden abstoßen. Und auch die Kommentare Herrn Ordynskis, die mit großer Sachkenntnis und Aufmerksamkeit abgefaßt sind, werden dem russischen Leser kaum großen Nutzen bringen. Die Übersetzung Herrn Ordynskis ist sehr schwerfällig und dunkel, und die Kommentare dienen fast nur dem Beweis der persönlichen Auffassungen des Übersetzers, der behauptet, daß Aristoteles‘ Buch „Über die Dichtkunst“ in vollem Umfang und nicht in fragmentarischen Auszügen auf uns gekommen sei, wie man gemeinhin annimmt, und daß der Text dieses Werks oder dieses Auszugs nicht verdorben sei und keiner Korrekturen bedürfe. Dieser Frage müssen wir uns jetzt noch zuwenden. Bedarf der Text der „Poetik“ des Aristoteles der Korrektur In welchem Maße der Text der aristotelischen Schriften verdorben ist, kann auch der Nichtphilologe aus dem Schicksal erkennen, das diese Schriften vor der Zeit hatten, wo sie allgemein bekannt wurden, was erst zweieinhalb Jahrhunderte nach dem Tode Aristoteles’ geschah. Diese Geschichte ist geradezu spannend, und wir wollen sie deshalb in ein paar Worten erzählen. Aristoteles selbst hat seine Werke zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht; nach seinem Tode gingen sie in die Hände seines Schülers Theophrastos über, der sie ebenfalls nicht veröffentlichte, vielleicht deshalb, weil Aristoteles gleich Anaxagoras gegen Ende seines Lebens [581] schweren Verfolgungen deswegen ausgesetzt war, da er die Vielgötterei ablehnte; man nimmt sogar an, daß diese * Wir halten die Übersetzung des Titels der aristotelischen Schrift περί πоιητιχής mit „Über die Dichtkunst“, wobei τέχνης zu ergänzen ist (vgl. den Titel τέχνη ρητоριχή), für richtiger als die von Herrn Ordynski vorgeschlagene Übersetzung „Über die Poesie“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 282<br />

Schließlich eine letzte Bemerkung: den Hauptunterschied zwischen den homerischen Epen<br />

und den späteren Tragödien sieht Aristoteles darin, daß die „Ilias“ und die „Odyssee“ wesentlich<br />

länger sind als die Tragödien und nicht eine so strenge Einheit der Handlung haben, wie<br />

sie in der Tragödie nötig ist: Episoden sind in der Tragödie unangebracht, im Epos tun sie der<br />

Schönheit des Ganzen keinen Schaden. Was die Tendenz, den Geist und den Charakter des<br />

Inhaltes betrifft, sieht Aristoteles keinen Unterschied zwischen den Tragödien und den homerischen<br />

Epen (den Unterschied in der Darstellungsweise sieht er natürlich sehr gut). Er nimmt<br />

sogar, ganz im Gegenteil, offenbar eine wesentliche Identität des Inhalts bei Epos und Tragödie<br />

an, indem er sagt, man könnte aus der „Ilias“ und der „Odyssee“ mehrere Tragödien machen.<br />

Soll man ein Versehen des Aristoteles darin erblicken, daß er hierin nicht einer Meinung<br />

mit den modernen Ästhetikern ist, die einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Inhalt<br />

des Epos und des Dramas annehmen Vielleicht; eher jedoch könnte man meinen, daß unsere<br />

Ästhetiker einen allzu tiefen inhaltlichen Unterschied zwischen der epischen und dramatischen<br />

Dichtung machen, die sich bei den Griechen voneinander offenbar mehr durch die Form als<br />

durch den Inhalt unterschieden. Wirklich müßte man, wenn man unvoreingenommen über<br />

diese Frage nachdenkt (aber unsere Ästhetiker haben ein ausgesprochenes Vorurteil zugunsten<br />

des Dramas, „der höchsten Form der Dichtung“) beinahe zu dem Schluß kommen, daß, wenn<br />

sich die Sujets vieler Erzählungen und Romane nicht für Dramen eignen, es kaum ein dramatisches<br />

Werk gibt, dessen Sujet nicht ebensogut (oder noch besser) in epischer Form erzählt<br />

werden könnte. Und kommt die Tatsache, daß einige Erzählungen und Romane (die sehr gut<br />

sind, aber wenig Handlung und viele überflüssige Episoden und Redereien enthalten, was natürlich<br />

in einer epischen Dichtung nicht als Vorzug zu betrachten ist) nicht in brauchbare<br />

Theaterstücke verwandelt werden konnten, nicht hauptsächlich daher, daß die Langeweile ‚–<br />

die sehr erträglich und teilweise sogar [578] angenehm ist, wenn man zur passenden Stunde<br />

mit sich allein ist –‚ unerträglich wird, sobald sie sich durch die Langeweile von tausenden<br />

Zuschauern verstärkt, die sich, ebenso wie Sie, in der dumpfen Atmosphäre des Theaters<br />

langweilen Nimmt man noch ein Dutzend anderer Umstände gleicher Art hinzu – zum Beispiel,<br />

daß Arrangierungen überhaupt selten Erfolg haben, daß der Erzähler an keinerlei Bühnenbedingungen<br />

gedacht hat, daß die dramatische Form an und für sich einengend wirkt –‚ so<br />

werden wir sehen, daß die mangelnde Eignung vieler, durch Umarbeitung von Erzählungen<br />

für die Bühne entstandener Stücke sich genügend erklären läßt, ohne daß man einen wesentlichen<br />

Unterschied zwischen dem epischen und dem dramatischen Sujet anzunehmen braucht.<br />

Dieser „letzten“ Bemerkung erlauben wir uns noch eine, dieses Mal wirklich allerletzte hinzuzufügen.<br />

Aristoteles stellt die Tragiker über den Homer und findet, obwohl er auch in dessen<br />

Dichtungen jedenfalls alle möglichen hohen Werte anerkennt, dennoch, daß die Tragödien des<br />

Sophokles und des Euripides der Form nach unvergleichlich kunstvoller (und dem Inhalt nach,<br />

hätte er hinzufügen können, viel tiefer) sind. Sollten nicht auch wir, diesem schönen Beispiel<br />

folgend, Shakespeare ohne falsche Unterwürfigkeit betrachten Für Lessing war es natürlich,<br />

daß er ihn über alle Dichter stellte, die es auf der Erde gab, und daß er seine Tragödien für die<br />

Herkulessäulen der Kunst hielt. Aber jetzt, wo wir Lessing selber, Goethe, Schiller und Byron<br />

haben, und wo kein Grund mehr besteht, gegen die allzu eifrigen Nachahmer der französischen<br />

Schriftsteller aufzutreten, ist es vielleicht nicht mehr ganz so natürlich, Shakespeare die<br />

unumschränkte Herrschaft über unsere ästhetischen Überzeugungen zu lassen und bei jeder<br />

passenden und unpassenden Gelegenheit als Beispiel alles Schönen seine Tragödien anzuführen,<br />

in denen man nur alles schön findet. Hat Goethe nicht zugegeben, daß „Hamlet“ der Bearbeitung<br />

bedarf Und hat Schiller etwa schlechten Geschmack gezeigt, wenn er neben Shakespeares<br />

„Macbeth“ auch Racines „Phädra“ bearbeitete Dem, was weit zurückliegt, stehen wir<br />

vorurteilslos gegenüber; warum zögern wir denn so lange, die [579] jüngste Vergangenheit als<br />

ein Jahrhundert der Kunstentwicklung anzuerkennen, die der früheren überlegen ist Hält ihre<br />

Entwicklung denn nicht Schritt mit der Entwicklung der Bildung und des Lebens<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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