15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 281<br />

wenn sie fehlt, unvermeidlich schwach wird, so große andere Vorzüge es auch sonst haben<br />

mag; die Forderung, daß im Theaterstück strengste Einheit der Handlung herrschen müsse (wir<br />

halten es für überflüssig, den längst von allen ausgesprochenen Gedanken zu wiederholen, daß<br />

Aristoteles außer der Einheit der Handlung keine andere Art von Einheit fordert) usw.<br />

Man bekommt sehr häufig die Meinung zu hören, die Ereignisse des wirklichen Lebens dürften<br />

so, wie sie sich abspielen, in der Dichtung nicht dargestellt werden; der historische Roman<br />

müsse die historischen Ereignisse unbedingt nach den Forderungen der Kunst bearbeiten,<br />

„da die historische Tatsache in ihrer Nacktheit niemals genügende innere Einheit besitzt<br />

und ihre einzelnen Teile nicht ausreichend verkettet sind“, – Aristoteles kommt auf diese<br />

Frage gelegentlich der historischen Tragödie zu sprechen und beantwortet sie folgendermaßen:<br />

in der Dichtung müssen die Einzelheiten der Handlung notwendig aus einander hervorgehen,<br />

und ihre Verkettung muß wahrscheinlich sein; manche der wirklich vor sich gegangenen<br />

Ereignisse entsprechen dieser Forderung durchaus: alles hat sich in ihnen notwendig<br />

entwickelt und alles ist wahrscheinlich – warum soll der Dichter sie nicht nehmen, wie sie<br />

sind Was sollen danach alle diese erfundenen Helden, die die echten Helden in den Schatten<br />

stellen und nur dazu eingeführt sind, um der dargestellten Epoche mit Hilfe ihrer erfundenen<br />

Erlebnisse „poetische Einheit zu geben“, als ob man im Leben der wirklichen Helden eines<br />

Romans nicht wahrhaft poetische Ereignisse auffinden könnte Aber die Mode des historischen<br />

Romans ist vorüber, und wir wenden deshalb unsere Bemerkung auf die Erzählungen<br />

und Dramen aus dem modernen Leben an: was soll diese ungenierte dramatische Steigerung<br />

wirklicher Vorgänge, der wir so häufig in Romanen und Erzählungen begegnen Wählt euch<br />

einen in sich zusammenhängenden und wahrscheinlichen Vorgang aus und erzählt ihn so, wie<br />

er in Wirklichkeit gewesen ist: wenn ihr die richtige Wahl getroffen habt (und das ist so [576]<br />

leicht!), so wird eure nicht bearbeitete Erzählung aus der Wirklichkeit besser sein als jede<br />

„nach den Anforderungen der Kunst“, d. h. gewöhnlich: nach den Anforderungen des literarischen<br />

Effekts bearbeitete Erzählung. Worin aber kommt dann euer „Schaffen“ zum Ausdruck<br />

– darin, daß ihr das Nötige vom Unnötigen und das, was zum Wesen des Vorgangs<br />

gehört, von dem, was beiläufig ist, zu trennen versteht.<br />

Eine falsche Auffassung von der notwendigen Verbindung zwischen der Schürzung und Auflösung<br />

des dramatischen Knotens war die Quelle einer falschen Auffassung vom Wesen des<br />

Tragischen in der heutigen Ästhetik. Ein tragisches Ereignis wird gewöhnlich als unter dem<br />

Einfluß irgendeines besonderen „tragischen Geschicks“ zustande gekommen vorgestellt, eines<br />

Geschicks, das alles Große und Schöne vernichtet. Aristoteles, dem der Begriff des<br />

„Schicksals“ noch sehr viel näher lag als uns, sagt kein Wort von der Einmischung des<br />

Schicksals in die Geschicke der Helden der Tragödie. Aber die tragischen Helden gehen gewöhnlich<br />

zugrunde Das wird bei ihm sehr einfach damit erklärt, daß die Tragödie das Ziel<br />

hat, Furcht und Mitleid zu erregen; wenn aber die Lösung eine glückliche ist, so wird diese<br />

Wirkung durch sie wieder ausgelöscht, auch wenn sie durch die vorhergehenden Szenen erregt<br />

wurde. Sie wenden ein, daß die Personen, die am Ende des Stückes zugrunde gehen, zu<br />

Beginn der Tragödie mächtig, glücklich sind Auch das wird bei Aristoteles einfach damit<br />

erklärt, daß der Kontrast stärker wirkt als das Eintönige: wenn der Zuschauer einen gesunden<br />

Menschen sterben und einen glücklichen zugrunde gehen sieht, wird er stärker von Furcht<br />

und Mitleid durchdrungen, als wenn dieser Kontrast fehlt. Und Aristoteles hat vollkommen<br />

recht, wenn er das „Schicksal“ nicht in den Begriff des Tragischen einschließt: diese äußerliche,<br />

nicht zur Sache gehörige Macht schwächt den inneren Zusammenhang der Ereignisse ab<br />

und gibt ihnen eine Richtung, die nicht aus dem Wesen der Handlung hervorgeht – insofern<br />

bringt das „Schicksal“ der Tragödie ästhetisch Schaden. Die Dichtung soll das mensch-<br />

[577]liche Leben darstellen – dann soll sie auch diese Darstellung nicht durch fremde Zutaten<br />

entstellen.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!