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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 280 haben keine Begriffe, denn der Begriff ist etwas Bestimmtes, für den einfachen Verstand Zugängliches; bei ihnen gibt es Wunschträume, denen nirgends irgendwelche Gegenstände entsprechen, die nur im Zustand der Ekstase zu begreifen sind, wenn der Mensch sich mit Hilfe einer künstlichen Lebensweise, durch unnatürliche Geistesanstrengungen in eine den Sinnen unzugängliche, geheimnisvolle Welt versetzt. Diese Traumbilder sind erhaben, jedoch erhaben nur für eine von der Macht des Verstandes befreite Phantasie; bei leisester Berührung mit positivem, klarem Denken zerfallen sie. Die Neoplatoniker wollten die Philosophie der alten Griechen mit den geheimnisvollen asiatischen Philosophemen vereinigen und den Wahnvorstellungen der erhitzten ägyptischen und indischen Phantasie wissenschaftliche Form geben; aus dieser Vereinigung bildete sich bei ihnen etwas, was noch sonderbarer und phantastischer war als die indische und die ägyptische Gescheittuerei selber. Das Denken, das aus diesem jenseitigen Boden hervorging, kann die positiven und klaren Auffassungen von Völkern, die eine alles analysierende Erfahrungswissenschaft besitzen, schwerlich lange Zeit beherrschen. Aber hier ist nicht der Ort, unsere Auffassung von der „Idealität“ der Kunst darzulegen: es genügt völlig, daß wir gesagt haben, wie sonderbar die Quelle ist, aus der sie stammt. Die Ideen Plotins über das Wesen des Schönen werden. wir auch nicht darlegen, teilweise deshalb, weil ihre Wiedergabe fast ganz auf die Wiedergabe der heute herrschenden ästhetischen Prinzipien hinauslaufen würde. Im übrigen bezeichnen wir den Gedanken von der Idealität der Kunst wohl zu Unrecht als „modern“: das Begriffssystem, zu dem er gehörte, ist bereits von allen verlassen; es hatte nur vorübergehende Bedeutung und ist heutzutage zusammen mit sein er Ausgeburt, der Romantik, vergessen. Und wenn die ästhetischen Auffassungen, die die Gebrüder Schlegel und ihre Parteigänger in die Welt hinaustrugen und die dann auch von ihren Gegnern angenommen wurden, in den [574] neuesten Ästhetiken noch nicht durch andere Auffassungen ersetzt worden sind, so einzig deshalb, weil die gegenwärtige Wissenschaft auf andere Fragen gerichtet ist und die ästhetischen Fragen deshalb kaum berührt hat. Die Neoplatoniker bearbeiteten die Philosophie Platos auf ägyptische Manier; dabei bewahrte aber ihre Lehre, die dem Wesen nach von der platonischen Philosophie völlig verschieden war, gewisse Züge äußerer Ähnlichkeit mit ihr. Das ist die Ursache, weshalb Plato vieles zugeschrieben wurde, was gar nicht von ihm stammt, darunter auch die Lehre von der Idealität der Kunst. Seine Auffassung vom Schönen wurde unter dem Einfluß des Systems der Neoplatoniker mit seiner Auffassung von der Kunst durcheinandergebracht, während er die Schönheit in der lebendigen Wirklichkeit sieht und nur eine höhere Schönheit in den Ideen und Handlungen des Weisen findet; aus letzterem ist ersichtlich, daß das „Schöne“ bei ihm im allgemeinen das ist, was wir in der gewöhnliche Umgangssprache als das „Schöne“ bezeichnen (schön ist die Tugend; der Patriotismus ist ein schönes Gefühl; es ist schön, eine edle Denkweise zu haben; ein blühender Garten ist schön usw.), nicht aber jenes „Schöne“, von dem die Ästhetik redet und das in der Vollkommenheit der materiellen Form besteht, die ihren inneren Gehalt voll zur Erscheinung bringt. Doch kehren wir zu Aristoteles und seiner „Poetik“ zurück. Außer der von uns dargestellten Lehre von der Erstehung der Kunst im allgemeinen, von der er sich, etwas übereilt, der Spezialfrage der Tragödie zuwendet, finden wir in ihr noch ziemlich viele Meinungen, die auch für unsere Zeit von Interesse sind. Über sie wollen wir einige Worte sagen. Mit den Meinungen dagegen, die sich nur auf die griechische Dichtung anwenden lassen und heute nur noch historische Bedeutung haben, wollen wir uns, unserem Plan entsprechend, nicht befassen; ebenso müssen wir eine Menge schöner Ideen über das Wesen der dramatischen Dichtung mit Schweigen übergehen, weil heutzutage ihre Richtigkeit allgemein bekannt ist; und wenn die modernen Dramatiker sich in ihren Werken nicht immer an sie halten, so einzig deshalb, weil es ihnen an Kraft oder Kunstfertigkeit fehlt: [575] hierzu gehört zum Beispiel der Gedanke, daß das Wesentlichste im Drama (Aristoteles sagt es von der Tragödie) die Handlung ist, so daß ein Stück, OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 281 wenn sie fehlt, unvermeidlich schwach wird, so große andere Vorzüge es auch sonst haben mag; die Forderung, daß im Theaterstück strengste Einheit der Handlung herrschen müsse (wir halten es für überflüssig, den längst von allen ausgesprochenen Gedanken zu wiederholen, daß Aristoteles außer der Einheit der Handlung keine andere Art von Einheit fordert) usw. Man bekommt sehr häufig die Meinung zu hören, die Ereignisse des wirklichen Lebens dürften so, wie sie sich abspielen, in der Dichtung nicht dargestellt werden; der historische Roman müsse die historischen Ereignisse unbedingt nach den Forderungen der Kunst bearbeiten, „da die historische Tatsache in ihrer Nacktheit niemals genügende innere Einheit besitzt und ihre einzelnen Teile nicht ausreichend verkettet sind“, – Aristoteles kommt auf diese Frage gelegentlich der historischen Tragödie zu sprechen und beantwortet sie folgendermaßen: in der Dichtung müssen die Einzelheiten der Handlung notwendig aus einander hervorgehen, und ihre Verkettung muß wahrscheinlich sein; manche der wirklich vor sich gegangenen Ereignisse entsprechen dieser Forderung durchaus: alles hat sich in ihnen notwendig entwickelt und alles ist wahrscheinlich – warum soll der Dichter sie nicht nehmen, wie sie sind Was sollen danach alle diese erfundenen Helden, die die echten Helden in den Schatten stellen und nur dazu eingeführt sind, um der dargestellten Epoche mit Hilfe ihrer erfundenen Erlebnisse „poetische Einheit zu geben“, als ob man im Leben der wirklichen Helden eines Romans nicht wahrhaft poetische Ereignisse auffinden könnte Aber die Mode des historischen Romans ist vorüber, und wir wenden deshalb unsere Bemerkung auf die Erzählungen und Dramen aus dem modernen Leben an: was soll diese ungenierte dramatische Steigerung wirklicher Vorgänge, der wir so häufig in Romanen und Erzählungen begegnen Wählt euch einen in sich zusammenhängenden und wahrscheinlichen Vorgang aus und erzählt ihn so, wie er in Wirklichkeit gewesen ist: wenn ihr die richtige Wahl getroffen habt (und das ist so [576] leicht!), so wird eure nicht bearbeitete Erzählung aus der Wirklichkeit besser sein als jede „nach den Anforderungen der Kunst“, d. h. gewöhnlich: nach den Anforderungen des literarischen Effekts bearbeitete Erzählung. Worin aber kommt dann euer „Schaffen“ zum Ausdruck – darin, daß ihr das Nötige vom Unnötigen und das, was zum Wesen des Vorgangs gehört, von dem, was beiläufig ist, zu trennen versteht. Eine falsche Auffassung von der notwendigen Verbindung zwischen der Schürzung und Auflösung des dramatischen Knotens war die Quelle einer falschen Auffassung vom Wesen des Tragischen in der heutigen Ästhetik. Ein tragisches Ereignis wird gewöhnlich als unter dem Einfluß irgendeines besonderen „tragischen Geschicks“ zustande gekommen vorgestellt, eines Geschicks, das alles Große und Schöne vernichtet. Aristoteles, dem der Begriff des „Schicksals“ noch sehr viel näher lag als uns, sagt kein Wort von der Einmischung des Schicksals in die Geschicke der Helden der Tragödie. Aber die tragischen Helden gehen gewöhnlich zugrunde Das wird bei ihm sehr einfach damit erklärt, daß die Tragödie das Ziel hat, Furcht und Mitleid zu erregen; wenn aber die Lösung eine glückliche ist, so wird diese Wirkung durch sie wieder ausgelöscht, auch wenn sie durch die vorhergehenden Szenen erregt wurde. Sie wenden ein, daß die Personen, die am Ende des Stückes zugrunde gehen, zu Beginn der Tragödie mächtig, glücklich sind Auch das wird bei Aristoteles einfach damit erklärt, daß der Kontrast stärker wirkt als das Eintönige: wenn der Zuschauer einen gesunden Menschen sterben und einen glücklichen zugrunde gehen sieht, wird er stärker von Furcht und Mitleid durchdrungen, als wenn dieser Kontrast fehlt. Und Aristoteles hat vollkommen recht, wenn er das „Schicksal“ nicht in den Begriff des Tragischen einschließt: diese äußerliche, nicht zur Sache gehörige Macht schwächt den inneren Zusammenhang der Ereignisse ab und gibt ihnen eine Richtung, die nicht aus dem Wesen der Handlung hervorgeht – insofern bringt das „Schicksal“ der Tragödie ästhetisch Schaden. Die Dichtung soll das mensch- [577]liche Leben darstellen – dann soll sie auch diese Darstellung nicht durch fremde Zutaten entstellen. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 280<br />

haben keine Begriffe, denn der Begriff ist etwas Bestimmtes, für den einfachen Verstand Zugängliches;<br />

bei ihnen gibt es Wunschträume, denen nirgends irgendwelche Gegenstände entsprechen,<br />

die nur im Zustand der Ekstase zu begreifen sind, wenn der Mensch sich mit Hilfe<br />

einer künstlichen Lebensweise, durch unnatürliche Geistesanstrengungen in eine den Sinnen<br />

unzugängliche, geheimnisvolle Welt versetzt. Diese Traumbilder sind erhaben, jedoch erhaben<br />

nur für eine von der Macht des Verstandes befreite Phantasie; bei leisester Berührung mit positivem,<br />

klarem Denken zerfallen sie. Die Neoplatoniker wollten die Philosophie der alten<br />

Griechen mit den geheimnisvollen asiatischen Philosophemen vereinigen und den Wahnvorstellungen<br />

der erhitzten ägyptischen und indischen Phantasie wissenschaftliche Form geben;<br />

aus dieser Vereinigung bildete sich bei ihnen etwas, was noch sonderbarer und phantastischer<br />

war als die indische und die ägyptische Gescheittuerei selber. Das Denken, das aus diesem<br />

jenseitigen Boden hervorging, kann die positiven und klaren Auffassungen von Völkern, die<br />

eine alles analysierende Erfahrungswissenschaft besitzen, schwerlich lange Zeit beherrschen.<br />

Aber hier ist nicht der Ort, unsere Auffassung von der „Idealität“ der Kunst darzulegen: es<br />

genügt völlig, daß wir gesagt haben, wie sonderbar die Quelle ist, aus der sie stammt. Die<br />

Ideen Plotins über das Wesen des Schönen werden. wir auch nicht darlegen, teilweise deshalb,<br />

weil ihre Wiedergabe fast ganz auf die Wiedergabe der heute herrschenden ästhetischen Prinzipien<br />

hinauslaufen würde. Im übrigen bezeichnen wir den Gedanken von der Idealität der<br />

Kunst wohl zu Unrecht als „modern“: das Begriffssystem, zu dem er gehörte, ist bereits von<br />

allen verlassen; es hatte nur vorübergehende Bedeutung und ist heutzutage zusammen mit sein<br />

er Ausgeburt, der Romantik, vergessen. Und wenn die ästhetischen Auffassungen, die die Gebrüder<br />

Schlegel und ihre Parteigänger in die Welt hinaustrugen und die dann auch von ihren<br />

Gegnern angenommen wurden, in den [574] neuesten Ästhetiken noch nicht durch andere<br />

Auffassungen ersetzt worden sind, so einzig deshalb, weil die gegenwärtige Wissenschaft auf<br />

andere Fragen gerichtet ist und die ästhetischen Fragen deshalb kaum berührt hat.<br />

Die Neoplatoniker bearbeiteten die Philosophie Platos auf ägyptische Manier; dabei bewahrte<br />

aber ihre Lehre, die dem Wesen nach von der platonischen Philosophie völlig verschieden<br />

war, gewisse Züge äußerer Ähnlichkeit mit ihr. Das ist die Ursache, weshalb Plato vieles zugeschrieben<br />

wurde, was gar nicht von ihm stammt, darunter auch die Lehre von der Idealität<br />

der Kunst. Seine Auffassung vom Schönen wurde unter dem Einfluß des Systems der<br />

Neoplatoniker mit seiner Auffassung von der Kunst durcheinandergebracht, während er die<br />

Schönheit in der lebendigen Wirklichkeit sieht und nur eine höhere Schönheit in den Ideen<br />

und Handlungen des Weisen findet; aus letzterem ist ersichtlich, daß das „Schöne“ bei ihm<br />

im allgemeinen das ist, was wir in der gewöhnliche Umgangssprache als das „Schöne“ bezeichnen<br />

(schön ist die Tugend; der Patriotismus ist ein schönes Gefühl; es ist schön, eine<br />

edle Denkweise zu haben; ein blühender Garten ist schön usw.), nicht aber jenes „Schöne“,<br />

von dem die Ästhetik redet und das in der Vollkommenheit der materiellen Form besteht, die<br />

ihren inneren Gehalt voll zur Erscheinung bringt.<br />

Doch kehren wir zu Aristoteles und seiner „Poetik“ zurück. Außer der von uns dargestellten<br />

Lehre von der Erstehung der Kunst im allgemeinen, von der er sich, etwas übereilt, der Spezialfrage<br />

der Tragödie zuwendet, finden wir in ihr noch ziemlich viele Meinungen, die auch für<br />

unsere Zeit von Interesse sind. Über sie wollen wir einige Worte sagen. Mit den Meinungen<br />

dagegen, die sich nur auf die griechische Dichtung anwenden lassen und heute nur noch historische<br />

Bedeutung haben, wollen wir uns, unserem Plan entsprechend, nicht befassen; ebenso<br />

müssen wir eine Menge schöner Ideen über das Wesen der dramatischen Dichtung mit Schweigen<br />

übergehen, weil heutzutage ihre Richtigkeit allgemein bekannt ist; und wenn die modernen<br />

Dramatiker sich in ihren Werken nicht immer an sie halten, so einzig deshalb, weil es ihnen an<br />

Kraft oder Kunstfertigkeit fehlt: [575] hierzu gehört zum Beispiel der Gedanke, daß das Wesentlichste<br />

im Drama (Aristoteles sagt es von der Tragödie) die Handlung ist, so daß ein Stück,<br />

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