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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 28<br />
Fisch; Sie Ihrerseits werden dieser Bemerkung durchaus beistimmen, und es kann wieder<br />
keine Meinungsverschiedenheit geben. Zu einem Streit kann es nur darüber kommen, wie<br />
groß oder klein die Wahrscheinlichkeit ist, daß neue Nährstoffe bald entdeckt werden, und zu<br />
welcher Art von Stoffen diese neuen, noch nicht entdeckten Nährstoffe aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach gehören können; aber bei diesem Streit werden Sie und Ihr Gegner gleichermaßen<br />
wissen und zugeben, daß Sie nur Vermutungen aussprechen, die keineswegs sicher sind,<br />
Vermutungen, die in Zukunft für die Wissenschaft mehr oder weniger von Nutzen sein können<br />
(weil auch Vermutungen und Hypothesen der wissenschaftlichen Forschung eine Richtung<br />
zeigen und zur Entdeckung einer Wahrheit führen, die sie bekräftigt oder widerlegt),<br />
jedoch noch nicht zu den wissenschaftlichen Wahrheiten gerechnet werden können. Versuchen<br />
Sie schließlich zu sagen, der Mensch könne ohne Nahrung nicht existieren – auch hier<br />
wird jedermann Ihnen recht geben und verstehen, das dieses negative Urteil mit dem positiven<br />
Urteil: „der menschliche Organismus braucht Nahrung“, logisch untrennbar verknüpft<br />
ist; jeder versteht; daß man, wenn man eines dieser Urteile annimmt, notwendig auch das<br />
andere annehmen muß. Ganz anders liegen die Dinge aber zum Beispiel in der Moralphilosophie.<br />
Versuchen [115] Sie zu sagen, was immer Sie wollen – jedesmal finden sich kluge und<br />
gebildete Menschen, die genau das Gegenteil behaupten. Sagen Sie zum Beispiel, die Armut<br />
wirke ungünstig auf Verstand und Herz des Menschen ein – und eine Menge kluger Leute<br />
wird Ihnen entgegnen: „Nein, die Armut schärft den Verstand, indem sie ihn zwingt, nach<br />
Mitteln zu ihrer Beseitigung zu suchen; sie veredelt das Herz, indem sie unsere Gedanken<br />
von den weltlichen Vergnügungen auf die Tugenden der Geduld, der Entsagung und des Mitleids<br />
mit der Not und dem Elend anderer lenkt.“ Nun gut; versuchen Sie umgekehrt zu sagen,<br />
die Armut beeinflusse den Menschen günstig – wieder findet sich die gleiche oder eine noch<br />
größere Menge von klugen Menschen, die dagegen sagen: „Nein, die Armut raubt dem Menschen<br />
die Möglichkeit zu geistiger Entwicklung, läßt keinen selbständigen Charakter zur<br />
Entwicklung kommen, verleitet dazu, wahllos nach jedem Mittel zur Abwendung der Armut<br />
oder zur einfachen Erhaltung des Lebens zu greifen; sie ist die Hauptquelle der Ignoranz, der<br />
Laster und der Verbrechen.“ Kurz gesagt, zu welcher Schlußfolgerung Sie in den moralischen<br />
Wissenschaften auch immer kommen mögen, Sie werden stets finden‚ daß sowohl diese als<br />
auch die entgegengesetzte Schlußfolgerung und außerdem eine Menge anderer Schlußfolgerungen,<br />
die weder zu Ihrer eigenen noch zu der entgegengesetzten, noch zueinander passen,<br />
kluge und aufgeklärte Menschen zu ehrlichen Vorkämpfern haben. Das gleiche finden wir in<br />
der Metaphysik, das gleiche auch in der Geschichte, ohne die weder die moralischen Wissenschaften<br />
noch die Metaphysik auskommen können.<br />
Diese Lage der Dinge in der Geschichte, den moralischen Wissenschaften und der Metaphysik<br />
bringt viele Menschen notwendig auf den Gedanken, diese Wissenszweige seien bisher<br />
oder gar überhaupt nicht imstande, so zuverlässige Resultate zu liefern, wie es Mathematik,<br />
Astronomie und Chemie tun. Es ist gut, daß wir schon Gelegenheit hatten, das Wort „Armut“<br />
zu verwenden: es ruft uns ein häufig vorkommendes Erlebnis aus dem Alltag in Erinnerung.<br />
Sobald irgendein Herr oder eine Dame mit zahlreicher Verwandtschaft sich zu einer guten<br />
Stellung in der Gesellschaft aufschwingen, [116] machen sich er oder sie sofort daran, ihre<br />
Verwandten beiderlei Geschlechts aus der Armut und dem Nichts emporzuziehen: in der<br />
Umgebung einer einflußreichen oder begüterten Persönlichkeit tauchen Brüder und<br />
Schwestern, Neffen und Nichten auf, alle hängen sich an sie und kommen in ihrem Gefolge<br />
selber empor. An ihre Verwandtschaft mit einer einflußreichen oder vermögenden Persönlichkeit<br />
erinnern sich selbst solche Herren und Damen, die nichts von ihr hatten wissen wollen,<br />
solange die betreffende Person einflußlos und unvermögend war. Den einen oder anderen<br />
von diesen Leuten kann die betreffende Person im tiefsten Herzen gar nicht leiden, hilft ihm<br />
aber dennoch – man kann doch einen Verwandten oder eine Verwandte nicht im Stich lassen<br />
– und verbessert seine Lage, sei es nun liebevoll oder verärgert. Genau das gleiche spielt sich<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013