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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 278<br />
den Personen charakterisierende Namen beilegen, d. h. nach der auch heute noch üblichen Gewohnheit<br />
allerlei Worowatins, Prawdins, Prjamossudows, Korschunows, Rasljuljajews (Spaßvögel)‚<br />
Borodkins (Leute von altväterlicher Lebensart), Starodums * auftreten lassen. 5<br />
Wir haben bereits auf mehreren Seiten eine Darstellung der Meinungen des Plato und des<br />
Aristoteles über die „nachahmenden Künste“ gegeben und einige Dutzend Male das Wort<br />
„Nachahmung“ verwenden müssen, aber noch keinmal ist dem Leser der übliche Ausdruck<br />
„Nachahmung der Natur“ begegnet, woher kommt das Sehen denn etwa Plato und besonders<br />
Aristoteles, der Lehrer all dieser Batteux, Boileau und Horaz, das Wesen der Kunst nicht in<br />
der Nachahmung der Natur, wie wir alle hinzuzufügen gewöhnt sind, wenn wir von der<br />
Theorie der Nachahmung reden Tatsächlich gilt sowohl für Plato als auch für Aristoteles als<br />
wahrer Inhalt der Kunst und insbesondere der Dichtung durchaus nicht die Natur, sondern das<br />
Leben des Menschen. Ihnen gebührt die hohe Ehre, vom Inhalt der Kunst genau dasselbe zu<br />
denken, was später erst wieder Lessing ausgesprochen [570] hat und was alle ihre Nachfolger<br />
nicht verstehen konnten. In der „Poetik“ des Aristoteles ist mit keinem Wort von der Natur<br />
die Rede: er erwähnt als Gegenstände, die die Dichtung nachahmt, Menschen, ihre Handlungen<br />
und Vorgänge unter .Menschen. Der Zusatz: „der Natur“ konnte in die Poetik erst zu<br />
einer Zeit aufgenommen werden, wo die matte und verlogene beschreibende Dichtung (die<br />
jetzt fast wieder Mode zu werden droht) und die von ihr nicht zu trennende didaktische Dichtung<br />
in Blüte standen – Gattungen, die Aristoteles aus der Dichtung verweist. Nachahmung<br />
der Natur ist für den wahren Dichter, dessen Hauptgegenstand der Mensch ist, etwas Fremdes.<br />
„Die Natur“ tritt erst in der Landschaftsmalerei in den Vordergrund, und der Ausdruck<br />
„Nachahmung der Natur“ ist zum erstenmal von einem Maler ausgesprochen worden; aber<br />
auch der Maler gebrauchte sie nicht in dem Sinn, den er bei den Zeitgenossen Deshoulières’<br />
und Delilles erhielt: als Lysippos (erzählt Plinius), damals noch ein Jüngling, den zu jener<br />
Zeit berühmten Maler Eupompos fragte, welchen der großen Künstler der Vergangenheit er<br />
nachahmen sollte, gab Eupompos, indem er auf die Menschenmenge wies, in deren Mitte sie<br />
standen, zur Antwort: „Keinen Künstler sollst du nachahmen, sondern die Natur.“ Es ist klar,<br />
daß er von der lebendigen Wirklichkeit sprach, die dem Künstler als Material und Vorbild<br />
dienen sollte, nicht aber von den „Gärten“, die Delille besang, und nicht von den „Seen“, die<br />
Wordsworth und Wilson samt ihrer Sippschaft beschreiben. 6<br />
Das alles führt zu der Überzeugung, daß viele Einwände, die gegen die Theorie der Nachahmung<br />
vorgebracht werden, sich eigentlich nicht auf sie beziehen, sondern auf die entstellte<br />
Form, die die Theoretiker der pseudoklassischen Schule ihr gegeben haben. Es ist hier nicht<br />
der Ort, persönliche Ansichten auszusprechen, und wir wollen deshalb nicht beweisen, daß es<br />
nach unserer Meinung richtiger wäre, die Kunst als Nachbildung der Wirklichkeit zu bezeichnen<br />
(indem man einen modernen Ausdruck an die Stelle des Wortes „Nachahmung“<br />
setzt, welches den Sinn des griechischen „μίμησις“ nicht sehr glücklich wiedergibt), statt zu<br />
glauben, daß die Kunst in ihren Werken unsere Idee von einer [571] vollendeten Schönheit<br />
verwirklicht, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Es muß aber unbedingt herausgestellt werden,<br />
daß man ganz zu Unrecht glaubt, wir wollten die Kunst, indem wir die Nachbildung der<br />
Wirklichkeit zu ihrem obersten Prinzip machen, dazu zwingen, „grobe und banale Kopien<br />
* Die Namen sind zeitgenössischen russischen Theaterstücken entnommen (siehe Anmerkung). Ins Deutsche übersetzt,<br />
würden sie etwa lauten wie: Diebisch, Ehrlich, Gradsinn, Geier, Lustig, Langbart und Altvater. Die Red.<br />
5 Die angeführten Personennamen stammen aus folgenden russischen Theaterstücken: Prawdin und Starodum sind<br />
Figuren aus dem „Muttersöhnchen“ von. D. Fonwisin; Korschunov und Rasljuljajew Figuren aus A. N. Ostrowskis<br />
Komödie „Armut ist kein Laster“; Borodkin eine Figur aus Ostrowskis Komödie „Bleib bei deinen Leisten“.<br />
6 Gemeint ist der Gedichtband „Les Jardins“ des französischen Dichters Delille, den Puschkin die „Ameise des<br />
Parnaß“ genannt hat. Mit „Wordsworth und Wilson samt ihrer Sippschaft“ sind die Vertreter der sogenannten<br />
„Seeschule“ der englischen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts gemeint.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013