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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 277<br />

Der Gelehrte läßt der Kunst in solchem Maße Gerechtigkeit widerfahren, daß er sie über die<br />

Wissenschaft stellt(allerdings nicht über seine eigene Spezialwissenschaft).Eine bemerkenswerte<br />

Erscheinung... Aber Aristoteles’ Meinung von der Geschichtsschreibung verlangt eine<br />

Erklärung: sie trifft nur auf jene Art Geschichtsschreibung zu, die zu seiner Zeit bekannt war<br />

– es gab damals keine eigentliche Geschichtsschreibung, sondern nur Chronographie. Bei<br />

Herodot gibt es wirklich keinerlei inneren Zusammenhang: alle neun Bücher seiner „Geschichte“<br />

sind mit Episoden angefüllt; eigentlich will er die Geschichte des „Krieges der<br />

Griechen und der Perser“ schreiben, kommt zu dieser Erzählung aber erst im sechsten Buche.<br />

Er möchte gern über allesreden, was er von der Geschichte und den Sitten der ihm bekannten<br />

Völker weiß. Seine Methode ist die folgende: die Perser führten Krieg gegen die Ägypter:<br />

reden wir ein bißchen über die Ägypter – und es folgt ein ganzes Buch über Ägypten; sie<br />

kämpften auch gegen die Skythen: reden wir ein bißchen über die Skythen – und es folgt ein<br />

ganzes Buch über die Skythen und Skythien. Jede Episode enthält wieder neue Episoden, die<br />

fast genau so eingeflochten sind: die Ägypter haben als Hauptstadt Memphis – eine Beschrei-<br />

[568]bung von Memphis; ich war auch einmal in Memphis – Beschreibung dessen, was er in<br />

Memphis gesehen hat; unter anderem war ich dort in einem Tempel – Beschreibung des<br />

Tempels; in diesem Tempel habe ich einen Priester gesehen – Beschreibung des Priesters und<br />

seiner Kleidung; der Priester unterhielt sich mit mir über dies und das – es wird erzählt, was<br />

der Priester ihm sagte; andere reden hierüber anders – es wird erzählt, was andere hierüber<br />

reden usw. usw. Herodot ist Erzähler, ein Mann, der viel herumgekommen ist, und seine Geschichte<br />

ähnelt den naiven, interessanten, aber zusammenhanglosen Erzählungen aller viel<br />

herumgekommenen Leute. Thucydides ist reiner Chronist, allerdings ein gelehrter und tiefer,<br />

seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ hat er jedoch auf folgende Weise angelegt:<br />

im sechsten Kriegswinter geschah in Attika folgendes; im gleichen Winter geschah auf dem<br />

Peloponnes folgendes; zur selben Zeit geschah in Korzyra folgendes; in Thrazien geschah<br />

damals folgendes; auf Lesbos folgendes usw. Im darauffolgenden Jahr geschah in Attika dies<br />

und das, auf dem Peloponnes das und jenes usw. Bei Thucydides gibt es zwischen den verschiedenen<br />

Erzählungen noch weniger inneren Zusammenhang als bei Herodot; nicht ein<br />

einziges Ereignis wird eigentlich auf einmal erzählt: Anfang, Mitte und Ende sind in den verschiedenen<br />

Büchern auf die verschiedenen „Winter“ und durchaus verständlich, wieviel<br />

„Sommer“ verteilt. Es ist kleinliche und für die Charakteristik der Hauptereignisse und der<br />

Hauptfiguren völlig unwichtige Einzelheiten derartige „Geschichten“ enthalten, Zu einer<br />

Wissenschaft ist die Geschichte erst in unserer Zeit geworden; bei den modernen großen Geschichtsschreibern<br />

herrscht stets strenge Einheit; bei ihnen gibt es keine unnötigen Details<br />

und werden nur solche Tatsachen und Einzelzüge angeführt, die „allgemein Bedeutung“ besitzen,<br />

wie Aristoteles es fordert, d. h. solche, die zur Charakteristik des Zeitalters und der<br />

Menschen notwendig sind.<br />

Die Zitate zeigen zur Genüge die Eindringlichkeit und Vielseitigkeit des aristotelischen Geistes;<br />

bei all seiner Genialität wird er jedoch infolge seines ständigen Strebens, nicht nur für die<br />

Haupterscheinungen, sondern auch für alle [569] ihre Einzelheiten eine tiefe philosophische<br />

Erklärung zu finden, häufig kleinlich. Dieses Streben, das in dem Axiom eines der neuesten Philosophen<br />

4 , eines Nebenbuhlers des Aristoteles, „alles Wirkliche ist vernünftig und alles Vernünftige<br />

ist wirklich“, zum Ausdruck kommt, hat beide Denker oft dazu gebracht, kleinlichen<br />

Tatsachen nur deshalb eine besondere Bedeutung zuzuschreiben, weil diese Tatsachen gut in ihr<br />

System paßten. Die von uns zitierte Stelle aus Aristoteles liefert hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel.<br />

Worin findet Aristoteles, nachdem er durchaus richtig definiert hat, daß die Dichtung nicht<br />

Nebensächlichkeiten, sondern das Allgemeine, das Charakteristische, darstellt, die Bestätigung<br />

für seine Auffassung – Darin, daß die Komiker stets und die Tragiker manchmal den handeln-<br />

4 Bezieht sich auf Hegel.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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