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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 276<br />

des Dichters, sich über irgendeine Frage klarzuwerden (wie die Gelehrten ihre Abhandlungen<br />

schreiben): das Streben, etwas (durch Nachahmung oder „Nachbildung“, wie man heute sagt)<br />

zu schaffen, etwas zu produzieren – das ist die Quelle der dichterischen Tätigkeit; die Begeisterung<br />

am schöpferischen Talent, die Befriedigung, die dem Bewußtsein von der menschlichen<br />

Genialität entspringt – das ist die Quelle des Genusses, den die Kunstwerke uns vermitteln.<br />

Wir wollen hier nicht auf andere Quellen der Kunst und des Kunstgenusses hinweisen,<br />

weil uns das zu weit von Aristoteles wegführen würde (ebenso haben wir uns weiter oben, als<br />

wir die Meinung Platos ergänzten, um uns nicht in überflüssige Einzelheiten zu verlieren,<br />

darauf beschränkt, nur auf eine Seite der hohen Bedeutung der Kunst hinzuweisen).<br />

Wenn aber Aristoteles den Nachahmungstrieb des Menschen und den Ursprung der Kunst<br />

einseitig erklärt, so muß man ihm volle Gerechtigkeit dafür widerfahren lassen, daß er bestrebt<br />

ist, der Kunst hohe Bedeutung im Bereich der geistigen Tätigkeit zuzuweisen; und<br />

wenn man mit seiner Meinung über den Ursprung der Kunst im allgemeinen nicht einverstanden<br />

sein kann, so muß man bewundernd [566] feststellen, wie richtig er das Verhältnis<br />

der Dichtung zur Philosophie definiert: indem die Dichtung das menschliche Leben vom<br />

Standpunkt des Allgemeinen darstellt und nicht die zufälligen und kleinlichen Nebensächlichkeiten,<br />

sondern das, was im Leben wesentlich und charakteristisch ist, vorführt, hat sie,<br />

meint Aristoteles, einen außerordentlich hohen philosophischen Wert. Sie steht in dieser Hinsicht,<br />

nach seiner Meinung, sogar höher als die Geschichte, die wahllos sowohl das Wichtige<br />

wie auch das Unwichtige, sowohl das Wesentliche und Charakteristische als auch das Zufällige<br />

und sogar Tatsachen, die keine eigentliche innere Bedeutung haben, beschreiben muß;<br />

die Dichtung steht auch deshalb weit über der Geschichtsschreibung, weil sie alles in seinem<br />

inneren Zusammenhang darstellt, während die Geschichtsschreibung verschiedenartige Tatsachen,<br />

die miteinander nichts gemein haben, ohne inneren Zusammenhang, in rein chronologischer<br />

Ordnung erzählt. Das dichterische Bild hat Sinn und Zusammenhang; die Geschichte<br />

enthält eine Menge völlig nichtssagender Einzelheiten und hat keinen Zusammenhang; sie<br />

gibt keine Bilder, sondern Fragmente von Bildern. Hier ist diese tiefe und bedeutende Stelle * .<br />

Es ist nicht die Aufgabe des Dichters, das Geschehene zu berichten, sondern das, was geschehen kann, d. h. was<br />

nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich ist (ein Gedanke, der bis heute die<br />

Grundlage unserer Auffassungen davon bildet, wie der Dichter das ihm von der Wirklichkeit gelieferte Material<br />

verwenden, was er davon für seine Darstellung nehmen und was er weglassen soll) ** . Geschichtsschreiber und<br />

Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß letzterer in Versen, ersterer in Prosa schreibt; denn man kann sich<br />

den Fall denken, daß das Werk Herodots in Verse gebracht würde, und es würde doch mit den Versen nicht<br />

weniger ein Geschichtswerk bleiben als ohne Verse. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß der eine [567]<br />

wirklich Geschehenes berichtet, der andere solches, was geschehen kann. Darum ist die Dichtung philosophischer<br />

und edler als die Geschichtsschreibung, denn die Dichtung hat zum Gegenstand das Allgemeine, die Geschichtsschreibung<br />

berichtet das Einzelne. Unter Allgemeinem verstehen wir, daß einem jeden nach seiner bestimmten<br />

Beschaffenheit bestimmte Reden oder Handlungen nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit oder<br />

Notwendigkeit zukommen. Danach zielt die Dichtung schon bei der Namengebung. Unter dem Einzelnen aber<br />

verstehen wir, was zum Beispiel Alkibiades ausführte oder erlitt; bei der Komödie ist das deutlich: erst setzen<br />

die Komödiendichter die Fabel nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zusammen, dann legen sie nach Belieben<br />

Namen unter. Bei der Tragödie dagegen.., finden sich in einigen ein oder zwei bekannte Namen, während<br />

die anderen erdichtet sind; in manchen findet sich sogar kein einziger bekannter Name, wie in dem ‚Anthos‘<br />

(Blume) Agathons: hier sind Handlung wie Name erdichtet, und der Genuß ist darum kein geringerer. ***<br />

* Bei Tschernyschewski folgen hier die Worte „in der Übersetzung Herrn Ordynskis, aus der wir hier einen<br />

Auszug anführen wollen, um dem Leser eine Vorstellung von seiner Sprache zu geben“. Wir zitieren nach der<br />

deutschen Übersetzung von H. Stich (1926) unter Beibehaltung einiger Kürzungen Tschernyschewskis Der Text<br />

bildet den Beginn des 9. Kapitels. Die Red.<br />

** Der in Klammern stehende Text ist eine Einschaltung N. G. Tschernyschewski. Die Red.<br />

*** Aristoteles, „Poetik“, deutsch von Hans Stich, 1926, 9. Kapitel. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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