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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 274<br />
Hauptinhalt der Dichtung (dieser ernstesten aller Künste) die „Liebe“ ist, d. h. die Verliebtheit,<br />
die von wahrhafter Liebe weit entfernt ist und sehr wenig ernsthafte Bedeutung besitzt.<br />
Gewöhnlich ist die Kunst bemüht, zu interessieren und zu unterhalten, ganz gleich womit und<br />
wie.<br />
Wenn aber die Kunst, um diesen Zweck bemüht, die anderen, wichtigeren Zwecke fast immer<br />
wieder vergißt, muß man doch zugeben, daß sie die breiten Massen auf sehr glückliche Art<br />
unterhält und damit, ohne auch nur daran zu denken, dazu beiträgt, Bildung, klare Begriffe<br />
von den Dingen und überhaupt alles zu verbreiten, was den Menschen zunächst geistig, dann<br />
aber auch materiellen Nutzen bringt. Die Kunst, oder besser gesagt die Dichtung (nur die<br />
Dichtung allein, weil die anderen Künste in dieser Hinsicht sehr wenig tun) ‚ verbreitet eine<br />
riesige Menge von Kenntnissen unter der Masse der Leser und macht sie, was noch wichtiger<br />
[562] ist, mit den von der Wissenschaft erarbeiteten Auffassungen bekannt – darin besteht<br />
recht eigentlich die große Bedeutung der Dichtung für das Leben.<br />
In unserer Zeit klingt es bereits merkwürdig – obwohl es vielleicht durchaus nicht überflüssig<br />
ist –‚ wenn man sich auf ausführliche Erklärungen darüber einläßt, was die Wissenschaft ist,<br />
worin ihre Bedeutung für das Leben besteht und wie groß diese ist. In der Wissenschaft sind<br />
die Früchte der Erfahrungen und der Überlegungen des Menschengeschlechts aufbewahrt,<br />
und vorwiegend auf dem Boden der Wissenschaft verbessern sich die Begriffe der Menschen,<br />
nach ihnen aber auch ihre Sitten und ihr ganzes Leben. Die Entdeckungen und Erwägungen<br />
der Wissenschaft bringen aber nur dann wirklichen Nutzen, wenn sie in der Masse des Publikums<br />
Verbreitung finden. In ihrer eigentlichen Gestalt ist die Wissenschaft streng und wenig<br />
anziehend; sie zieht die Menge nicht an. Die Wissenschaft setzt bei ihren Adepten große vorbereitende<br />
Kenntnisse und, was bei der Mehrheit noch seltener anzutreffen ist, Gewohnheit<br />
an ernstes Denken voraus. Um in die Masse einzudringen, muß die Wissenschaft daher die<br />
Form der Wissenschaft ablegen. Ihr fester Kern muß zu Mehl zermahlen und mit Wasser angerührt<br />
werden, um sich in eine schmackhafte und leicht verdauliche Speise verwandeln zu<br />
können. Das geschieht durch „populäre“ Darstellungen der Wissenschaft. Aber auch die populärwissenschaftlichen<br />
Bücher erfüllen noch nicht alle Bedingungen, die zur Verbreitung<br />
wissenschaftlicher Auffassungen bei der Mehrheit des Publikums nötig sind: sie bieten eine<br />
leichte, aber keine verlockende Lektüre – die Mehrzahl der Leser will jedoch, daß das Buch<br />
wie eine süße Nachspeise ist. Diese ansprechende Lektüre liefern ihr Romane, Erzählungen<br />
usw. Zweifellos haben nur ganz wenige Romanschriftsteller gleich Walter Scott die Absicht,<br />
ihre Begabung zur Verbreitung der Bildung unter den Lesern zu verwenden. Aber wie ein<br />
wenig gebildeter Mensch aus der Unterhaltung mit einem Gebildeten stets irgendwelche neue<br />
Kenntnisse mitnimmt, auch wenn die Unterhaltung anscheinend gar kein ernstes Thema berührt<br />
hat, so wird auch die Masse des Publikums, die außer Romanen und Er-[563]zählungen<br />
nichts anderes liest, aus dieser Lektüre, zum mindesten aus Büchern historischer Art, ja sogar<br />
aus Gedichten vieles lernen, wenn sie von Menschen geschrieben sind, welche an Bildung<br />
jedenfalls höher stehen als die Mehrheit ihrer Leser. Und es kann keinen Zweifel daran geben,<br />
daß nicht nur „Juri Miloslawski“, sondern sogar auch „Leonid oder einige Zuge usw. “ *<br />
den Wissenskreis ihrer Leser bedeutend erweitert haben. Prägen die populärwissenschaftlichen<br />
Bücher den schweren, von der Wissenschaft ausgeschmolzenen Goldbarren zu Goldmünzen<br />
aus, so setzt die Dichtung silberne Scheidemünzen in Umlauf, die auch dorthin<br />
kommen, wo die Goldmünze selten hingelangt, und die immerhin einen unveräußerlichen<br />
Wert haben. Als Verbreiterin von Wissen und Bildung hat die Dichtung für das Leben eine<br />
außerordentliche Bedeutung. Das „Spiel“ mit ihr trägt wesentlich zur geistigen Entwicklung<br />
* Zwei zeitgenössische Romane: M. Sagoskin, „Juri Miloslawski“, und R. Sotow, „Leonid oder einige Züge aus<br />
dem Leben Napoleons“. Die Red.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013