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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 273<br />

verflogen ist); aber ganz genau so ist der Mensch, wenn er von einem reichlichen Mahl aufsteht,<br />

umgänglicher und gütiger, als er mit ausgehungertem Magen war. Die wohltätige Wirkung<br />

der Kunst als Kunst (unabhängig von diesem oder jenem Inhalt des Kunstwerkes) besteht<br />

fast ausschließlich darin, daß die Kunst etwas Angenehmes ist; die gleiche wohltätige<br />

Eigenschaft kommt jedoch allen anderen angenehmen Beschäftigungen, Beziehungen und<br />

Gegenständen zu, von denen eine „gute seelische Stimmung“ abhängt. Der gesunde Mensch<br />

ist sehr viel weniger Egoist und viel gütiger als der kranke, der stets mehr oder weniger reizbar<br />

und unzufrieden ist; eine gute Wohnung stimmt den Menschen auch gütiger als eine<br />

feuchte, düstere und kalte; ein ruhiger Mensch (d. h. ein [560] Mensch, der sich in keiner<br />

unangenehmen Lage befindet) ist gütiger als ein von Kummer geplagter Mensch usw. Die<br />

ernsten, praktischen Lebensbedingungen, die die Zufriedenheit des Menschen mit seiner Lage<br />

hervorrufen, wirken stärker und dauernder auf ihn als der angenehme Eindruck, den die<br />

Kunst hinterläßt. Für die Mehrzahl der Menschen ist die Kunst lediglich Zerstreuung, d. h.<br />

etwas ziemlich Unbedeutendes, was keine ernste Befriedigung gewähren kann. Und wenn wir<br />

die Tatsachen gut abwägen, werden wir uns leicht davon überzeugen, daß viele ganz unbedeutende,<br />

alltägliche Zerstreuungen dem Menschenherzen mehr Befriedigung gewähren und<br />

es leichter in gute Stimmung versetzen als die Kunst: wenn heute Plato in unserer Mitte erschiene,<br />

würde er wahrscheinlich sagen, daß zum Beispiel das Zusammensitzen der Leute auf<br />

der Rasenbank vor dem Haus (auf dem Dorf) oder um den Samowar (in der Stadt) mehr dazu<br />

beigetragen hat, in unserem Volke eine gute seelische Stimmung und ein gütiges Verhalten<br />

zu den Menschen zur Entwicklung zu bringen, als alle Werke der Malerei, von den ordinären<br />

Bilderbogen bis zu dem „Letzten Tag Pompejis“ * . Der Nutzen, den die Kunst als eine der<br />

Quellen der Zufriedenheit für die Entwicklung alles Guten im Menschen hat, ist nicht zu bezweifeln,<br />

er ist aber verschwindend gering im Vergleich mit dem Nutzen, den andere günstige<br />

Lebensbeziehungen und -bedingungen mit sich bringen; deshalb wollen wir uns nicht auf<br />

ihn beziehen, um zu zeigen, wie groß die Bedeutung der Kunst für das Leben ist. Gewiß versteht<br />

man den Einfluß der Kunst auf die Entwicklung der Sittlichkeit gewöhnlich nicht so,<br />

wie wir ihn geschildert haben, und sagt, daß der ästhetische Genuß das Herz nicht einfach<br />

dadurch milder stimmt, daß er eine gute seelische Stimmung hervorruft, sondern daß er die<br />

Seele durch die Erhabenheit und den Adel der Gegenstände und Gefühle, die uns im Kunstwerk<br />

anziehen, unmittelbar erhebt und adelt; gewöhnlich sagt man, daß das, was sich uns in<br />

der Kunst als „schön“ darstellt, bereits dadurch edel und erhaben ist. Da wir jedoch entschieden<br />

nicht an die heikle [561] Frage rühren wollten, inwiefern der eigentliche Inhalt der<br />

Mehrheit der Kunstwerke ernste Bedeutung hat, und deshalb nicht die Absicht hatten, die<br />

scharfen Angriffe anzuführen, die Plato gegen die Kunst ihres Inhalts wegen richtet, werden<br />

wir um so weniger selbst in solche Angriffe verfallen. Erinnern wir nur daran, daß die Kunst<br />

den Anforderungen des Publikums Rechnung tragen muß, und daß die Mehrheit, die die<br />

Kunst nur als Zerstreuung betrachtet, von der Zerstreuung natürlich nicht erhabene und edle<br />

Inhalte verlangt, sondern graziöse, interessante, amüsante und sogar leichtfertige. Einer der<br />

ernstesten und edelsten Dichter unserer Zeit 3 sagt in seinem Vorwort zu seinen Liedern: Ich<br />

wollte gar nicht von Liebe singen, aber wer würde meine Lieder lesen, wenn ihr Inhalt ernst<br />

wäre Deshalb mußte ich, als ich einige ernste Gedichte geschrieben hatte, die allein ich eigentlich<br />

schreiben wollte, sie in einer Menge von Liebesliedchen untergehen lassen, damit<br />

das Publikum mit der Lockspeise auch diese gesunde Nahrung herunterschlucke. – In dieser<br />

Lage befindet sich der Künstler, der ernste und edle Neigungen hat, fast immer (wir wollen<br />

nicht hinzufügen, daß nicht alle Künstler diese Neigungen haben). Wem diese kurzen Andeutungen<br />

ungenügend erscheinen, der möge sich die Mühe geben, daran zu denken, daß der<br />

* Gemälde von K. Brüllow (gemalt 1833). Die Red.<br />

3 Gemeint ist Heinrich Heine.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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