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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 268<br />

schichte der Literatur der allgemeinen Betrachtung und Erforschung für nötig gehalten wird,<br />

müssen auch die allgemeinen Fragen nach dem Wesen, der Bedeutung und dem Einfluß der<br />

Dichtung, der Literatur und der Kunst riesiges Interesse haben, da von ihrer Beantwortung auch<br />

unsere Auffassung des Gegenstandes abhängt; aber gerade wenn sich eine [550] klare und richtige<br />

Auffassung bilden soll, sind Tatsachen nötig. Wozu braucht man sie überhaupt zu kennen,<br />

wenn nicht, um Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen Mit einem Wort, uns scheint, daß alle<br />

Einwände gegen die Ästhetik auf einem Mißverständnis beruhen, auf einer falschen Auffassung<br />

davon, was Ästhetik und was überhaupt jede theoretische Wissenschaft ist. Die Geschichte der<br />

Kunst bildet die Grundlage für eine Kunsttheorie, dann hilft diese Kunsttheorie, die Kunstgeschichte<br />

zeitgemäßer und vollständiger zu bearbeiten; eine bessere Bearbeitung der Geschichte<br />

führt wiederum zu einer weiteren Vervollkommnung der Theorie und so weiter – diese wechselseitige<br />

Beeinflussung zum beiderseitigen Nutzen der Geschichte und der Theorie wird unendlich<br />

weitergehen, solange die Menschen die Tatsachen studieren und aus ihnen Schlußfolgerungen<br />

ziehen und nicht bloß zu wandelnden chronologischen Tabellen und biographischen Verzeichnissen<br />

werden, die weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit haben, zu denken und zu erkennen.<br />

Ohne Geschichte eines Gegenstandes gibt es keine Theorie des Gegenstandes; aber ohne Theorie<br />

des Gegenstandes ist auch keine Geschichte des Gegenstandes denkbar, da nur sie einen Begriff<br />

des Gegenstandes, eine Vorstellung von seiner Bestimmung und seinen Grenzen gibt. Das<br />

ist ebenso einfach, wie daß zwei mal zwei vier und daß eine Eins eine Eins ist; wir kennen jedoch<br />

Leute, die mit Hilfe des Newtonschen Binoms beweisen, daß eins gleich zwei ist...<br />

Bei uns hat übrigens noch vieles den Reiz der Neuheit, vieles mit Ausnahme einiger gewöhnlich<br />

nichtssagender Büchlein in verschiedenen Sprachen – meistens in französischer –‚ wie<br />

die Machwerke eines Michel Chevalier und anderer „großer Gelehrter“, „tiefer und gleichzeitig<br />

klarer Denker“ seinesgleichen und vielleicht noch die letzten Nummern der „Revue des<br />

deux Mondes“ mit ihren erhabenen Weisen. Diese Bücher sind für niemanden weder ein Geheimnis<br />

noch eine Neuheit, dafür dienen sie jedoch einigen Denkern als wahrer Kodex, als<br />

Gegenstand tiefen Nachdenkens. In ihnen liegt aller Wahrscheinlichkeit nach die Ursache des<br />

Abscheus vieler Menschen vor der Ästhetik: diese Bücher und Artikel versuchen uns unter<br />

anderem auch als [551] Wahrheit einzureden, daß die Ästhetik eine dunkle, tote, abstrakte<br />

und zu nichts zu gebrauchende Wissenschaft sei.<br />

Die Ästhetik eine tote Wissenschaft! Wir wollen nicht gerade sagen, daß es keine lebendigere<br />

Wissenschaft gäbe als sie, aber es wäre nicht schlecht, wenn wir uns um diese Wissenschaften<br />

kümmern würden, aber nein, wir heben andere Wissenschaften in den Himmel, die sehr<br />

viel weniger lebendiges Interesse darstellen. Die Ästhetik eine unfruchtbare Wissenschaft!<br />

Als Antwort stellen wir die Frage: erinnern wir uns noch an Lessing, Goethe und Schiller,<br />

oder haben sie bereits das Recht verwirkt, daß wir ihrer gedenken, seitdem wir Thackeray<br />

kennengelernt haben Halten wir die deutsche Dichtung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts<br />

noch für wertvoll...<br />

Aber vielleicht lehnen einige Leute nicht so sehr den Nutzen und die Notwendigkeit theoretischer<br />

Schlußfolgerungen überhaupt ab, als ihre Einzwängung in den engen Rahmen eines Systems<br />

Das wäre ein ausgezeichneter Anlaß zur Feindschaft, wenn er nur irgendwie begründet<br />

wäre, wenn irgendeiner der modernen Menschen irgendein System irgendeiner Wissenschaft<br />

als ewiges Gefäß der gesamten Wahrheit betrachten würde. Aber heutzutage sagen fast alle<br />

(und diejenigen, die Systeme aufstellen, gewöhnlich mit noch mehr Ehrlichkeit als die anderen),<br />

daß jedes System geboren wird und zugrunde geht oder, besser gesagt, sich verändert mit<br />

den Auffassungen der Zeit, die es hervorgebracht hat; heutzutage zwingt uns niemand „jurare<br />

in verba magistri“ * : ein System ist für die Wissenschaft nur ein provisorischer Einband; und<br />

* jurare in verba magistri (lat.) – auf Worte des Meisters schwören (Horaz, Episteln, I,1, 14). Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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