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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 267<br />
art, daß er sie bei einem anderen Schriftsteller, dem sehr tüchtigen Historiker Henri Martin,<br />
auslieh: offenbar hält Herr Demogeot Auslassungen über die Tropen und Figuren eines großen<br />
Schriftstellers für ein mustergültiges Urteil über dessen Wirken!<br />
[548] Wir wollen doch der Ästhetik dankbar dafür sein, daß sie uns der Mühe enthoben hat, derartige<br />
Urteile über Dershawin und Karamsin zu lesen und zu schreiben. Wir wiederholen: wir<br />
würden die Feindschaft gegen die Ästhetik verstehen, wenn sie selber ein Feind der Literaturgeschichte<br />
wäre; bei uns ist dagegen stets die Notwendigkeit der Literaturgeschichte verkündet<br />
worden; und die Männer, die sich im besonderen mit ästhetischer Kritik befaßten, haben viel<br />
auch für die Geschichte der Literatur getan, mehr als irgendeiner unserer heutigen Schriftsteller. 2<br />
Bei uns hat die Ästhetik stets anerkannt, daß sie vom exakten Tatsachenstudium ausgehen muß,<br />
und verdient ebensowenig den Vorwurf abstrakter Inhaltlosigkeit wie beispielsweise die russische<br />
Grammatik. Wenn sie sich also früher nicht die Feindschaft der Anhänger einer historischen<br />
Literaturforschung zugezogen hat, so verdient sie diese Feindschaft noch weniger jetzt,<br />
wo jede theoretische Wissenschaft von einer möglichst vollständigen und exakten Erforschung<br />
der Tatsachen ausgeht. Wir sind jedoch bereit anzunehmen, daß viele Menschen bei uns hinsichtlich<br />
der modernen Auffassung darüber, was Theorie ist und was Philosophie ist, noch im<br />
Irrtum sind. Viele Menschen bei uns sind der Meinung, bei den modernen Denkern herrschten<br />
noch immer transzendentale Ideen vom „apriorischen Wissen“, von einer „Entwicklung der<br />
Wissenschaft aus sich selber“, ohne Voraussetzung u. dgl.: wir können ihnen versichern, daß<br />
diese Begriffe nach der Meinung der modernen Denker sehr gut und vor allem als Übergangsstufe<br />
unbedingt notwendig waren zu ihrer Zeit, vor 40, 30 oder wohl auch noch 20 Jahren, aber<br />
nicht heute: heute sind sie veraltet, sind als einseitig und unzulänglich erkannt. Wir wagen zu<br />
behaupten, daß die wahrhaft modernen Denker unter „Theorie“ genau das verstehen, was Bacon<br />
versteht, und mit ihm die Astronomen, Chemiker, Physiker, Ärzte und andere Adepten der positiven<br />
Wissenschaft darunter verstanden. Gewiß ist, soviel wir wissen, noch kein eigentliches<br />
„Lehrbuch der Ästhetik“ entsprechend diesen neuen Auffassungen geschrieben worden; die<br />
Begriffe, die einem solchen Lehrbuch zugrunde liegen müssen, sind jedoch bereits genügend<br />
klar herausgearbeitet und in [549] einzelnen kleineren Aufsätzen und in Episoden größerer Werke<br />
entwickelt worden. Wir wagen sogar zu behaupten, daß auch die früheren, heute veralteten,<br />
Lehrbücher der sogenannten transzendentalen Ästhetik ihre Thesen auf einer bedeutend größeren<br />
Zahl von Tatsachen aufbauen, als ihre Gegner meinen. Man denke nur daran, daß in ihrem<br />
wichtigsten Lehrbuch, das nur drei Bände umfaßt, der historische Teil fast zwei Bände ausmacht,<br />
und daß mehr als die Hälfte des dritten Bandes ebenfalls mit historischen Details gefüllt<br />
ist. * Aber wir wollen nicht annehmen, daß die Gegner der Ästhetik im besonderen oder der<br />
Theorie im allgemeinen daran erinnert werden müssen: da wir nicht die Absicht haben, sie als<br />
Menschen hinzustellen, die hinter der Entwicklung des modernen Denkens zurückgeblieben<br />
sind, möchten wir lieber annehmen, daß ihre Abneigung gegen die Ästhetik einen anderen, wesentlich<br />
schmeichelhafteren Grund hat: die Gegner der Ästhetik sehen in ihr eine abstrakte und<br />
unfruchtbare Theorie und lehnen sie ab, weil sie sehr auf „lebendiges Wissen“ halten, das irgendeine<br />
ernste Bedeutung für die sogenannten Lebensfragen hat. Von diesem Standpunkt aus<br />
hat Plato, wie wir noch sehen werden, nicht die Ästhetik angegriffen (das wäre noch nicht einmal<br />
so wichtig, und es gab zudem zu Platos Zeiten noch keine Ästhetik, abgesehen von der, die<br />
in Bruchstücken in seinen eigenen Werken zerstreut ist) – nein, er griff die Kunst selber an, und<br />
wir können nur bedauern, daß die Kunst seine Angriffe bis zu einem gewissen Grade verdiente,<br />
können aber auch nicht umhin, Plato Teilnahme entgegenzubringen. Wenn aber Dichtung, Literatur<br />
und Kunst als so wichtige Gegen stände betrachtet werden, daß beispielsweise die Ge-<br />
2 Es ist klar, daß Tschernyschewski hier Belinski meint.<br />
* Tschernyschewski meint hier Hegels dreibändiges Werk „Vorlesungen über die Ästhetik“ (Sämtl. Werke, Bd.<br />
XII–XIV). Die Red.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013