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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 266<br />
ARISTOTELES „ÜBER DIE DICHTKUNST“<br />
ÜBERSETZT, DARGESTELLT UND ERLÄUTERT VON B. ORDYNSKI,<br />
MOSKAU, 1854 1<br />
Herr Ordynski verdient hohe Anerkennung und Dank dafür, daß er die „Poetik“ des Aristoteles<br />
zum Gegenstand seiner Betrachtungen gewählt hat: sie ist die erste und kapitalste Abhandlung<br />
über die Ästhetik und hat bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts als Grundlage<br />
aller ästhetischen Begriffe gedient. War Herrn Ordynskis Wahl aber wirklich glücklich Es<br />
gibt heutzutage ziemlich viele Menschen, die der Meinung sind, daß die Ästhetik als Wissenschaft<br />
keine besondere Aufmerksamkeit verdient, und die sogar zu sagen bereit sind, daß die<br />
Ästhetik zu nichts führt und zu nichts nützt und daß bestenfalls ihre Dunkelheit uns daran<br />
hindert zu sehen, wie leer sie ist. Andererseits jedoch findet sich unter diesen vielen kaum<br />
einer, der nicht mit einem gewissen mitleidigen Lächeln von La Harpe sagte, „diesem wirklich<br />
klugen und gelehrten Literarhistoriker fehle bei der Beurteilung von Schriftstellern jede<br />
feste und bestimmte Grundlage“, und der nicht ein Wort des Bedauerns über Mersljakow<br />
verlöre, weil „dieser wirklich durch feinen Geschmack ausgezeichnete Kritiker unglücklicherweise<br />
nur ein ‚russischer La Harpe‘ gewesen sei und deshalb der russischen Kritik vielleicht<br />
mehr Schaden als Nutzen gebracht habe“. Derartige Meinungen, denen sich wohl jeder<br />
moderne Verächter der Ästhetik anschließen wird, machen es beinahe überflüssig, die Notwendigkeit<br />
dieser Wissenschaft gegen Menschen zu verteidigen, die sie so ganz und gar nicht<br />
mögen, zugleich aber nicht daran zweifeln, daß die Kritik oder Literaturgeschichte „klarer<br />
und fester allgemeiner [547] Grundsätze“ bedarf. Was wird denn unter Ästhetik verstanden,<br />
wenn nicht ein System allgemeiner Grundsätze der Kunst überhaupt und der Dichtung im<br />
besonderen Wir verstehen sehr wohl, daß die Ästhetik heftige Vorwürfe in jenen Zeiten verdiente,<br />
da man ihretwegen die Literaturgeschichte vergaß, während man sich auf fünfundzwanzig<br />
Seiten des langen und breiten über die „ausgezeichneten“, „sehr guten“, „mittelmäßigen“<br />
und „schlechten“ Strophen irgendeiner Ode ausließ und am Ende dieser Sortierung auf<br />
ebensoviel neuen Seiten die „starken“ oder „unrichtigen“ Wendungen in diesen „ausgezeichneten“,<br />
„mittelmäßigen“ usw. Strophen untersuchte. Aber wann hat es denn bei uns diese Zeit<br />
gegeben, die zur offenbaren Zufriedenheit der jede Ästhetik verachtenden Franzosen heute<br />
noch in der französischen Literatur andauert Sie hat bei uns mit den achtzehnhundertdreißiger<br />
Jahren aufgehört, gerade zu der Zeit, als wir begannen, die Ästhetik kennenzulernen. Ihr<br />
verdanken wir es, daß wir selbst in dem schlechtesten russischen Buch zum Beispiel nicht<br />
solche Urteile über die „großen Verdienste Bossuets“ lesen können wie die folgenden, die wir<br />
der sonst recht ordentlichen „Geschichte der französischen Literatur“ Herrn Demogeots (Paris<br />
1852!!) entnommen haben: „Bossuet bildet für sich allein eine besondere Welt in der großen<br />
literarischen Welt des 17. Jahrhunderts. Die anderen sind Söhne Roms... Er trägt den<br />
Orient in den Okzident hinein durch Wortverbindungen von unglaublicher Kühnheit und<br />
Neuheit, durch gigantische Figuren, die der europäische Geschmack ihm nicht eingegeben<br />
hätte (par des alliances de mots d’une hardiesse et d’une nouveauté incroyables, par des figures<br />
gigantesques), die er jedoch den Gesetzen der Proportion zu unterwerfen versteht, wobei<br />
er selbst im Unermeßlichen Maß zu halten weiß. Das ist die Frucht seiner ständigen Bemühungen“<br />
usw. Diese in ihrer Borniertheit geradezu geniale Stelle gefiel Herrn Demogeot der-<br />
1 Der Aufsatz „Aristoteles ‚Über die Dichtkunst‘“ wurde erstmalig in den „Otetschestwennyje Sapiski“, Jahrgang<br />
1854, Heft 96, Nr. 9, veröffentlicht. Das Manuskript ist nicht erhalten geblieben.<br />
Anlaß zu dem Aufsatz gab das Erscheinen der „Poetik“ des Aristoteles in einer neuen russischen Übersetzung,<br />
die im Jahre 1854 unter dem Titel „Über die Dichtkunst“ (übersetzt von B. Ordynski) erschien.<br />
Seinem Inhalt nach schließt sich der Aufsatz eng an die „Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“<br />
an, die er ergänzt und deren Grundgedanken er in allgemein verständlicherer Form erklärt.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013