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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 258 denn sie entspricht, scheint uns, nicht dem Zweck des Autors – die Aufmerksamkeit für die Gedanken zu wecken, auf die er seine Kunsttheorie aufzubauen bemüht ist. Er konnte dieses Ziel erreichen 10 , indem er seinen allgemeinen Gedanken durch ihre Anwendung auf die laufenden Probleme unserer Literatur ein lebendiges Interesse verlieh. Er konnte an zahlreichen Beispielen den lebendigen Zusammenhang zwischen den allgemeinen Prinzipien der Wissenschaft und den Tagesinteressen aufzeigen, die heute so viele Menschen beschäftigen. 11 [534] 10 Im Manuskript heißt es hier: „Er konnte dieses Ziel auf zwei Wegen erreichen – entweder, indem er seinem Werk die unfreundliche, aber ehrenwerte Außenseite einer unverständlichen Sprache gab mit zahlreichen Zitaten aus zahllosen Gelehrten und mit einem ganzen solchen Apparat, der stets außerordentlichen Eindruck auf Leute macht, die sich für Gelehrte halten, oder...“ 11 Im Manuskript heißt es weiter: „Was läßt sich da tun Ein allgemeines Prinzip zieht nur dann die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, wenn es als Ausgangspunkt für einen Lobeshymnus oder für eine Philippika dient; andernfalls bleibt es fast völlig unbeachtet, so wichtig es auch an sich sein mag. Aber Herr Tschernyschewski hatte nicht die Absicht oder war nicht imstande, die zahlreichen Gelegenheiten für eine Apologie oder besonders für Philippiken auszunützen; er hat keinen einzigen der Namen angetastet, mit denen man sich heute in literarischen Kreisen befaßt; deswegen wird seine Arbeit auf die Leute, die sich für literarische Fragen interessieren, sehr viel weniger Eindruck machen, als der Autor mit der Darstellung seiner Gedanken wohl beabsichtigt hat.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013
N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 259 DIE ÄSTHETISCHEN BEZIEHUNGEN DER KUNST ZUR WIRKLICHKEIT (Vorwort zur dritten Auflage) 1 In den vierziger Jahren zeigte die Mehrheit der Gebildeten in Rußland ein lebhaftes Interesse für die deutsche Philosophie; unsere besten Publizisten vermittelten dem russischen Publikum, soweit es möglich war, die damals in ihr vorherrschenden Ideen. Das waren die Ideen Hegels und seiner Schüler. Gegenwärtig gibt es selbst in Deutschland nur noch wenige Anhänger Hegels 2 um so weniger sind solche noch bei uns vorhanden. Gegen Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre jedoch beherrschte seine Philosophie unsere Literatur. Fast alle Menschen von aufgeklärter Denkweise sympathisierten mit ihr, soweit sie sie aus den unvollständigen Darstellungen unserer Publizistik kannten. Die wenigen, die an die Lektüre philosophischer Bücher in deutscher Sprache gewöhnt waren, erklärten in ihren Kreisen das, was in den gedruckten Darstellungen in russischen Sprache nicht bis zu Ende ausgesprochen wurde; ihre Kommentare wurden begierig aufgenommen, und die Kommentatoren standen bei ihren wißbegierigen Bekannten in hoher Achtung. Zu Lebzeiten Hegels würde die Einheit seiner Denkweise bei seinen Schülern durch seine persönliche Autorität aufrechterhalten. Aber bereits als er noch lebte, erschienen in der deutschen philosophischen Literatur Untersuchungen, in denen Schlußfolgerungen aus Hegels Grundideen dargelegt wurden, die dieser entweder verschwiegen oder im äußersten Notfall sogar getadelt hatte. Die wichtigste dieser Untersuchungen war 1 Die zweite Auflage der „Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ erschien ohne Nennung des Autors im Jahre 1865, als Tschernyschewski sich in Sibirien in Verbannung befand. In einem Brief an seinen Sohn Alexander vom 2. November 1887 weist Tschernyschewski darauf hin, daß eine neue Auflage der „Ästhetischen Beziehungen“ wünschenswert sei, und schreibt dazu: „Wenn irgendein Verleger der Meinung sein sollte, daß es nötig wäre, die ‚Ästhetischen Beziehungen‘ neu aufzulegen, würde ich bitten, mich davon zu verständigen und mir ein Exemplar des Buches zuzuschicken; ich würde dann eine Bearbeitung vornehmen...“ Nach Empfang eines Exemplars der „Ästhetischen Beziehungen“ schrieb ‘Tschernyschewski am 12 Dezember 1887 seinem Sohn: „Wenn ich die Zeit finde, schreibe ich ein Vorwort zu diesem Buch und versehe en Text hier und da mit Anmerkungen.“ Bald darauf teilte A. N. Tschernyschewski seinem Vater mit, daß L. F. Pantelejew bereit sei, die „Ästhetischen Beziehungen“ herauszugeben. Am 17. April 1888 schreibt Tschernyschewski seinem Sohn Michail: „Vielen Dank für den Vorschlag, das Buch ‚Ästhetische Beziehungen‘ an Longin Fjodorowitsch zu geben; ich habe ein Exemplar hier; nachdem ich gestern Deinen Brief über die Absicht Longin Fjodorowitschs mir diesen Gefallen zu erweisen, erhalten hatte, machte ich mich daran, ein Vorwort zu schreiben und einige Verbesserungen im Text anzubringen.“ Die Vorbereitung der neuen Auflage beschäftigte Tschernyschewski nur einige Tage lang. Er begann sie am 16. April und schloß sie am 20. April 1888 ab; an diesem Tage wurde der Text nach Petersburg geschickt. In einem Brief vom 20. April machte Tschernyschewski von der Absendung des Textes Mitteilung und wies darauf hin, daß er den Text für die neue Auflage „mit Korrekturen am Rande des Buchtextes und auf einzelnen Blättern“ versehen und dem Buch ein neues Vorwort beigegeben habe. Am 7. Mai 1888 machte die Hauptverwaltung für Presseangelegenheiten an A. W. Sacharjin, der die Verhandlungen mit der Zensur aufgenommen hatte, die Mitteilung, daß das Buch „Ästhetische Beziehungen“ und das „Vorwort“ zu ihm nicht zum Druck zugelassen werden könnte. Das Manuskript blieb unbenutzt bis zum Jahre 1906 liegen; erst in diesem Jahre wurde das im Jahre 1888 geschriebene Vorwort Tschernyschewskis in den zweiten Teil des X. Bandes der Sämtlichen Werke Tschernyschewskis aufgenommen. In seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ gibt W. I. Lenin in dem Zusatz zu dem § 1 des Kapitels IV „Von welcher Seite kritisierte N. G. Tschernyschewski den Kantianismus“ eine außerordentlich hohe Bewertung der Philosophischen Bedeutung von Tschernyschewskis „Vorwort“ zu der geplanten dritten Auflage der „Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ (W. I. Lenin, Werke, 4. Ausg., Bd. 14, S. 344-346 russ.) 2 Nach den Worten „wenige Anhänger Hegels“ ist im Manuskript gestrichen: „die Hegel treu geblieben sind; die sich nicht über das leere Phrasengeklingel jener metaphysischen Systeme lustig machten, deren letztes und mächtigstes von Hegel ausgebildet worden war“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013
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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 258<br />
denn sie entspricht, scheint uns, nicht dem Zweck des Autors – die Aufmerksamkeit für die<br />
Gedanken zu wecken, auf die er seine Kunsttheorie aufzubauen bemüht ist. Er konnte dieses<br />
Ziel erreichen 10 , indem er seinen allgemeinen Gedanken durch ihre Anwendung auf die laufenden<br />
Probleme unserer Literatur ein lebendiges Interesse verlieh. Er konnte an zahlreichen<br />
Beispielen den lebendigen Zusammenhang zwischen den allgemeinen Prinzipien der Wissenschaft<br />
und den Tagesinteressen aufzeigen, die heute so viele Menschen beschäftigen. 11 [534]<br />
10 Im Manuskript heißt es hier: „Er konnte dieses Ziel auf zwei Wegen erreichen – entweder, indem er seinem<br />
Werk die unfreundliche, aber ehrenwerte Außenseite einer unverständlichen Sprache gab mit zahlreichen Zitaten<br />
aus zahllosen Gelehrten und mit einem ganzen solchen Apparat, der stets außerordentlichen Eindruck auf<br />
Leute macht, die sich für Gelehrte halten, oder...“<br />
11 Im Manuskript heißt es weiter: „Was läßt sich da tun Ein allgemeines Prinzip zieht nur dann die allgemeine<br />
Aufmerksamkeit auf sich, wenn es als Ausgangspunkt für einen Lobeshymnus oder für eine Philippika dient;<br />
andernfalls bleibt es fast völlig unbeachtet, so wichtig es auch an sich sein mag. Aber Herr Tschernyschewski<br />
hatte nicht die Absicht oder war nicht imstande, die zahlreichen Gelegenheiten für eine Apologie oder besonders<br />
für Philippiken auszunützen; er hat keinen einzigen der Namen angetastet, mit denen man sich heute in literarischen<br />
Kreisen befaßt; deswegen wird seine Arbeit auf die Leute, die sich für literarische Fragen interessieren,<br />
sehr viel weniger Eindruck machen, als der Autor mit der Darstellung seiner Gedanken wohl beabsichtigt hat.“<br />
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