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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 256<br />
mit Genuß bedienen wird, auch wenn er andere Lehrbücher nicht kennt oder nicht liebt. Auf<br />
diese ihre hohe, schöne, wohltätige Bestimmung für den Menschen muß die Kunst stolz sein.<br />
Herr Tschernyschewski hat einen nach unserer Meinung höchst betrüblichen Fehler damit<br />
begangen, daß er den Gedanken der praktischen Bestimmung der Kunst, ihres Wohltätigen<br />
Einflusses auf Leben und Bildung, nicht ausführlicher entwickelt hat. Gewiß würde er mit<br />
einer solchen Abschweifung die Grenzen seines Gegenstandes überschritten haben; aber<br />
manchmal sind derartige Verstöße zur Klarstellung des Gegenstandes systematisch nötig.<br />
[530] Ungeachtet dessen, daß Herrn Tschernyschewskis Werk ganz und gar von der Hochachtung<br />
für die Kunst wegen ihrer hohen Bedeutung für das Leben durchdrungen ist, können<br />
sich jetzt Leute finden, die sich in den Kopf setzen, dieses Gefühl nicht zu sehen, weil ihm<br />
nirgendwo ein paar besondere Seiten gewidmet sind; sie können auf den Gedanken kommen,<br />
daß er den wohltätigen Einfluß der Kunst auf das Leben nicht zu würdigen versteht und sich<br />
vor allem neigt, was die Wirklichkeit bietet. Was Herr Tschernyschewski hierüber denkt, und<br />
was andere in diesem Falle über ihn denken werden, ist uns gleichgültig: er hat seinen Gedanken<br />
nicht bis zu Ende ausgeführt und muß die Verantwortung für diese Unterlassung auf<br />
sich nehmen. Aber wir müssen das klarstellen, was er klarzustellen vergessen hat, um die<br />
Einstellung der modernen Wissenschaft zur Wirklichkeit zu charakterisieren.<br />
Die uns umgebende Wirklichkeit ist hinsichtlich der Beziehungen der zahllosen Erscheinungen<br />
zu den Bedürfnissen des Menschen nicht einheitlich und hat verschiedenen Charakter.<br />
Diese Auffassung finden wir auch bei Herrn Tschernyschewski: „Die Natur“, sagt er, „weiß<br />
nichts vom Menschen und seinen Geschäften, von seinem Glück, von seinem Untergang; der<br />
Natur ist der Mensch gleichgültig, sie ist weder sein Feind noch sein Freund“ (Seite 28<br />
[396]); „oft leidet der Mensch und geht zugrunde, ohne daß von seiner Seite irgendeine<br />
Schuld vorliegt“ (Seite 30 [398]); die Natur entspricht nicht immer seinen Bedürfnissen;<br />
deshalb muß der Mensch, um seinem Leben Ruhe und Glück zu verleihen, die objektive<br />
Wirklichkeit in vielem verändern, um sie den Bedürfnissen seines praktischen Lebens anzupassen.<br />
Wirklich gibt es unter den Vorgängen, von denen der Mensch umgeben ist, viele, die<br />
für ihn unangenehm oder schädlich sind; teilweise gibt ihm der Instinkt, mehr noch die Wissenschaft<br />
(Kenntnisse, Überlegung, Erfahrung) die Mittel an die Hand, zu erkennen, welche<br />
Vorgänge der Wirklichkeit für ihn gut und vorteilhaft sind und deshalb gefördert und mit<br />
seiner Beihilfe weiterentwickelt werden müssen, und welche Vorgänge der Wirklichkeit dagegen<br />
belastend und für ihn schädlich sind und deshalb beseitigt oder [531] mindestens abgeschwächt<br />
werden müssen, damit das Menschenleben glücklich wird; die Wissenschaft wiederum<br />
liefert ihm auch die Mittel zur Durchsetzung dieses Zwecks. Eine außerordentlich<br />
mächtige Hilfe leistet der Wissenschaft hierbei die Kunst, die ungewöhnlich befähigt ist, die<br />
von der Wissenschaft errungenen Erkenntnisse einer großen Klasse von Menschen zugänglich<br />
zu machen, weil es für den Menschen sehr viel leichter und anziehender ist, Kunstwerke<br />
kennenzulernen, als sich die Formeln und die strenge Analyse der Wissenschaft anzueignen.<br />
In dieser Hinsicht ist die Bedeutung der Kunst für das Menschenleben unermeßlich groß. Wir<br />
reden dabei nicht von dem Genuß, den ihre Werke den Menschen bieten, weil es völlig überflüssig<br />
ist, über den hohen Wert des ästhetischen Genusses für den Menschen zu reden: über<br />
diese Bestimmung der Kunst spricht man auch ohne diese viel zuviel, wobei man die andere<br />
wesentlichere Bestimmung der Kunst, die uns jetzt beschäftigt, zu vergessen pflegt.<br />
Schließlich hat Herr Tschernyschewski, scheint uns, einen bedeutenden Fehler damit begangen,<br />
daß er die Einstellung der modernen positiven oder praktischen Weltanschauung zu den<br />
sogenannten „idealen“ Bestrebungen des Menschen nicht klargestellt hat – auch hier sieht<br />
man sich oft in die Notwendigkeit versetzt, gegen Mißverständnisse aufzutreten. Die positive<br />
Haltung, die die Wissenschaft einnimmt, hat nichts gemein mit jener vulgären positiven Haltung,<br />
die trockne Menschen beherrscht und das Gegenteil von idealen, aber gesunden Bestre-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013