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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 255<br />

[528] Auch für den Begriff des Tragischen, das einen wichtigen Zweig des Erhabenen darstellt,<br />

gibt der Autor eine neue Bestimmung, um ihn von den transzendentalen Zusätzen zu<br />

reinigen, mit denen die herrschende Theorie ihn kompliziert indem sie ihn mit dem Begriff<br />

des Schicksals verbindet, dessen innere Leere jetzt von der Wissenschaft bewiesen ist. Indem<br />

der Autor den Forderungen der Wissenschaft entsprechend jeden Gedanken an das Schicksal<br />

oder die Notwendigkeit, Unvermeidlichkeit aus der Bestimmung des Tragischen ausschaltet,<br />

versteht er es einfach als „das Furchtbare im Menschenleben“ 8<br />

Der Begriff des Komischen (die Leere, die Sinnlosigkeit einer Form, die keinen Inhalt hat<br />

oder auf einen Inhalt Anspruch erhebt, der ihrer Nichtigkeit nicht angemessen ist) ist in der<br />

herrschenden Theorie so entwickelt, daß er den Ansprüchen der modernen Wissenschaft genügt,<br />

deshalb braucht der Autor ihn nicht zu verändern – er harmoniert auch schon in seiner<br />

gewöhnlichen Formulierung mit dem Geist seiner Theorie. Damit ist die Aufgabe, die der<br />

Autor sich gestellt hatte – nämlich die ästhetischen Grundbegriffe auf den gegenwärtigen<br />

Stand der Wissenschaft zu bringen –‚ soweit die Kräfte des Autors ausreichten, gelöst, und er<br />

beschließt seine Untersuchungen folgendermaßen:<br />

Eine Apologie der Wirklichkeit gegenüber der Phantasie, das Bemühen, zu beweisen, daß die Werke der Kunst<br />

entschieden keinen Vergleich mit der lebendigen Wirklichkeit aushalten – das ist das Wesen meiner Abhandlung.<br />

Heißt so von der Kunst reden, wie es der Autor tut, nicht die Kunst herabsetzen – Ja, wenn der Nachweis,<br />

daß die Kunst hinsichtlich der künstlerischen Vollkommenheit ihrer Schöpfungen hinter dem wirklichen Leben<br />

zurückbleibt, eine Herabsetzung der Kunst bedeutet; aber gegen die Panegyriker auftreten, heißt noch nicht, ein<br />

Lästerer sein. Die Wissenschaft denkt nicht daran, der Wirklichkeit überlegen sein zu wollen; das ist für sie<br />

keine Schande. Auch die Kunst soll nicht glauben, daß sie der Wirklichkeit überlegen sei; das bedeutet für sie<br />

keine Erniedrigung. Die Wissenschaft schämt sich nicht zu sagen, daß es ihr Zweck ist, die Wirklichkeit zu<br />

verstehen und zu erklären und ihre Erklärungen dann zum Wohl des Menschen zu verwenden; möge sich auch<br />

die Kunst nicht schämen zuzugeben, daß ihr Zweck ist: zur Entschädigung für den Fall, daß es keinen von der<br />

Wirklichkeit gelieferten vollendeten ästhetischen Genuß gibt, diese wertvolle Wirklichkeit für den Menschen<br />

nach Kräften nachzubilden und sie zum Wohle des Menschen zu erklären.<br />

[529] Dieser Schluß ist, nach unserer Meinung, zu wenig ausgebaut. Er wird noch vielen Veranlassung<br />

zu der Annahme geben, die Bedeutung der Kunst sinke tatsächlich, wenn die<br />

schrankenlosen Lobpreisungen des absoluten Werts ihrer Werke zurückgewiesen und an Stelle<br />

unermeßlich hoher, transzendentaler Quellen und Zwecke die Bedürfnisse des Menschen zur<br />

Quelle und zum Zweck der Kunst gemacht werden. Ganz im Gegenteil, gerade hierdurch wird<br />

ja die reale Bedeutung der Kunst herauf gesetzt, da ihr durch diese Erklärung ein unbestreitbarer<br />

Ehrenplatz in der Reihe der Tätigkeiten angewiesen wird, die zum Wohl des Menschen<br />

dienen, und dem Menschen zum Wohl gereichen, heißt vollen Anspruch auf die Hochachtung<br />

von seiten des Menschen haben. Der Mensch neigt sich vor dem, was ihm zum Wohl gereicht.<br />

So nennt man das Brot im Russischen „Vater Brot“, weil der Mensch von ihm zehrt, und der<br />

Mensch nennt die Erde „Mutter Erde“, weil sie ihn nährt. Vater und Mutter! Alle Lobgesänge<br />

sind nichts vor diesen heiligen Namen, und alle hochtrabenden Ergüsse sind leer und nichtssagend<br />

vor diesem Gefühl der kindlichen Liebe und Dankbarkeit. Ebenso verdient auch die Wissenschaft<br />

dieses Gefühl, weil sie dem Wohl des Menschen dient, und ebenso verdient es die<br />

Kunst, wenn sie zum Wohl des Menschen dient. Und sie bringt ihm viel, viel Gutes; denn das<br />

Werk des Künstlers, besonders des Dichters, der dieses Namens würdig ist, ist ein „Lehrbuch<br />

des Lebens“, wie der Autor sich sehr richtig ausdrückt, ein Lehrbuch, dessen sich jedermann<br />

8 Im Manuskript ist weiter folgendes gestrichen: „Der Leser wird natürlich bemerkt haben, daß die Änderungen<br />

die Herr Tschernyschewski in der Kunsttheorie vornimmt, zu folgendem allgemeinem Resultat führen: sie begründen<br />

die Kunst auf rein menschliche Bedürfnisse statt auf die früheren phantastischen oder transzendentalen<br />

Grundlagen, deren Unhaltbarkeit heutzutage von der Wissenschaft [bewiesen] ist, und sie nähern die Kunst<br />

dem wirklichen Leben und den wirklichen Bedürfnissen des menschlichen Herzens an. Hierin ist der Autor ein<br />

getreuer Schüler der modernen Wissenschaft, die in allen ihren Anschauungen von den Bedürfnissen des Menschen<br />

ausgeht und das Wohl des Menschen zum Ziel aller ihrer Theorien macht.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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