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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 254<br />
[526] Die herrschende Theorie gibt zu, daß die Schönheit im Reiche der Natur das ist, was<br />
uns an den Menschen und seine Schönheit erinnert; es ist deshalb klar, daß wenn im Menschen<br />
die Schönheit das Leben ist, von der Naturschönheit das gleiche gesagt werden muß.<br />
Der Analyse, die Herr Tschernyschewski zur Bestätigung seiner Auffassung von der wesentlichen<br />
Bestimmung des Schönen anführt, machen wir den Vorwurf, daß die Ausdrücke deren<br />
sich der Autor bedient, Bedenken hervorrufen können – instinktiv oder bewußt bemerkt der<br />
Mensch, daß die Schönheit mit dem Leben in Verbindung steht. Selbstverständlich geschieht<br />
das meist instinktiv. Sehr zu Unrecht hat der Autor sich nicht die Mühe gegeben, auf diesen<br />
wichtigen Umstand hinzuweisen.<br />
Der Unterschied zwischen den vom Autor angenommenen und den abgelehnten Betrachtungsweisen<br />
des Schönen ist sehr wichtig. Wenn das Schöne „die volle Offenbarung der Idee im einzelnen<br />
Wesen“ ist, so gibt es in den wirklichen Gegenständen nichts Schönes, denn die Idee<br />
erscheint vollkommen nur im ganzen Weltall und kann sich mi einzelnen Gegenstand nicht<br />
vollkommen verwirklichen; hieraus würde folgen, daß das Schöne in die Wirklichkeit nur durch<br />
unsere Phantasie hineingetragen wird, daß deshalb der eigentliche Bereich des Schönen der Bereich<br />
der Phantasie ist, und die Kunst infolgedessen, wenn sie die Ideale der Phantasie verwirklicht,<br />
höher steht als die Wirklichkeit und ihre Quelle im Streben des Menschen hat, das Schöne<br />
zu schaffen, welches er in der Wirklichkeit nicht vorfindet. Aus der vom Autor vorgeschlagenen<br />
Auffassung dagegen: „das Schöne ist das Leben“, geht hervor, daß die wahre Schönheit die<br />
Schönheit der Wirklichkeit ist, daß die Kunst (wie der Autor auch annimmt) nichts schaffen<br />
kann, was den Erscheinungen der wirklichen Welt an Schönheit gleichkäme, und dann erklärt<br />
sich die Entstehung der Kunst leicht nach der oben dargelegten Theorie des Autors.<br />
Der Autor untersucht dann kritisch die Ausdrücke, in denen die herrschende Ästhetik den Begriff<br />
des Erhabenen bestimmt – „das Erhabene ist das Überwiegen der Idee über die Form“ und<br />
„das Erhabene ist das, was in uns die Idee des Unendlichen erweckt“ –‚ und kommt zu dem<br />
[527] Schluß, daß auch diese Definitionen unrichtig sind; er findet, daß ein Gegenstand den Eindruck<br />
des Erhabenen macht, ohne im geringsten die Idee des Unendlichen wachzurufen. Danach<br />
muß der Autor wieder nach einer anderen Definition suchen, und ihm scheint, daß alle zum Gebiet<br />
des Erhabenen gehörenden Erscheinungen sich in der folgenden Formel zusammenfassen<br />
und erklären lassen: „Das Erhabene ist das, was sehr viel größer ist als alles, mit dem wir es vergleichen<br />
können.“ So ist zum Beispiel, sagt er, der Kasbek ein majestätischer Berg (obwohl er<br />
sich uns durchaus nicht als etwas Grenzenloses oder Unendliches darstellt), weil er sehr viel<br />
höher ist als die durchschnittlichen Berge, die wir zu sehen gewöhnt sind; so ist die Wolga ein<br />
majestätischer Fluß, weil sie bedeutend breiter ist als die kleinen Flüsse; die Liebe ist eine erhabene<br />
Leidenschaft, weil sie bedeutend stärker ist als die alltäglichen, kleinlichen Berechnungen<br />
und Intrigen; Julius Cäsar, Othello, Desdemona sind erhabene Persönlichkeiten, weil Julius Cäsar<br />
bedeutend genialer ist als die gewöhnlichen Menschen, weil Othello sehr viel stärker liebt<br />
und eifersüchtig ist und weil Desdemona stärker liebt als die gewöhnlichen Menschen.<br />
Aus den von Herrn Tschernyschewski abgelehnten herrschenden Definitionen ergibt sich,<br />
daß das Schöne und das Erhabene im strengen Sinn des Wortes in der Wirklichkeit nicht anzutreffen<br />
sind und nur von unserer Phantasie in ‚ sie hineingetragen werden; aus der von<br />
Herrn Tschernyschewski vorgeschlagenen Auffassung folgt dagegen, daß das Schöne und das<br />
Erhabene in der Natur und im Menschenleben wirklich existieren. Gleichzeitig folgt aber<br />
auch, daß es unmittelbar von den Auffassungen des genießenden Menschen abhängt, ob er<br />
von diesem oder jenem Gegenstand, der diese Eigenschaften besitzt, Genuß haben kann;<br />
schön ist das, worin wir das Leben entsprechend unserer Auffassung vom Leben sehen, erhaben<br />
ist das, was bedeutend größer ist als die Gegenstände, mit denen wir es vergleichen. Auf<br />
diese Weise wird die objektive Existenz des Schönen und des Erhabenen in der Wirklichkeit<br />
mit der subjektiven Betrachtungsweise des Menschen in Einklang gebracht.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013