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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 253<br />
lich“ ja sie macht auf ihn einen unangenehmen Eindruck, denn er ist gewöhnt, „Magerkeit“ für die Folge von<br />
Krankheit oder „bitterem Los“ zu halten. Aber Arbeit läßt kein Fett ansetzen: wenn das Dorfmädchen dick ist,<br />
so ist das eine Art von Kränklichkeit das Anzeichen einer „zerdunsenen“ Statur, und das Volk hält besondere<br />
Dicke für einen Mangel. Die Dorfschöne kann nicht kleine Händchen und Füßchen haben, weil sie viel arbeitet<br />
– dieses Zubehör der Schönheit wird in unseren Volksliedern nie erwähnt. Mit einem Wort: bei der Beschreibung<br />
von schönen Mädchen finden wir in unseren Volksliedern nicht ein einziges Schönheitsmerkmal, welches<br />
nicht der Ausdruck der blühenden Gesundheit und des Gleichgewichts der Kräfte im Organismus ist, die immer<br />
die Begleiterscheinung eines auskömmlichen Lebens bei ständiger, ernster, aber nicht übermäßiger Arbeit sind.<br />
Ganz anders steht es mit der schönen Dame: schon mehrere Generationen ihrer Vorfahren haben nicht von ihrer<br />
eignen Hände Arbeit gelebt; bei untätigem Leben fließt weniger Blut in die Glieder, mit jeder Generation werden<br />
die Muskeln an Händen und Füßen schlaffer und die Knochen feiner; die notwendige Folge hiervon sind<br />
kleine Händchen und Füßchen – sie sind das Kennzeichen eines Lebens, das den höheren Gesellschaftsklassen<br />
allein als Leben erscheint: des Lebens ohne physische Arbeit; wenn die Dame große Hände und Füße hat, so ist<br />
das ein Anzeichen entweder dafür, daß sie schlecht gebaut ist, oder dafür, daß sie nicht aus einer alten, guten<br />
Familie stammt. Aus demselben Grunde muß die schöne Dame kleine Öhrchen haben. Die Migräne ist bekanntlich<br />
eine interessante Krankheit – und nicht ohne Grund: infolge mangelnder Tätigkeit bleibt das Blut in den<br />
inneren Organen, fließt zum Gehirn; das Nervensystem ist infolge der allgemeinen Schwäche des Organismus<br />
schon ohnehin leicht reizbar; die unvermeidliche Folge hiervon sind anhaltende Kopfschmerzen und allerlei<br />
Nervenstörungen; was hilft’s auch eine Krankheit ist interessant, ja sogar fast erstrebenswert, wenn sie die<br />
Folge der Lebensart ist, die uns gefällt. Gewiß kann die Gesundheit in den Augen des Menschen niemals ihren<br />
Wert verlieren, denn ohne Gesundheit sind auch Wohlleben und Luxus schlecht zu ertragen; infolgedessen bleiben<br />
rote Backen und blühende, gesunde Frische auch für die gute Gesellschaft anziehende Eigenschaften aber<br />
krankhaftes Aussehen, Schwäche, Mattheit haben in ihren Augen auch einen Schönheitswert, nämlich sobald sie<br />
als die Folge eines untätigen Luxuslebens erscheinen. Blässe, angegriffenes kränkliches Aussehen haben für die<br />
höhere Gesellschaft noch eine andere Bedeutung: wenn der Landbewohner Erholung und Ruhe sucht, so suchen<br />
die Menschen der gebildeten Stände, die materielle Not und Physische Müdigkeit nicht kennen, die sich aber<br />
dafür aus Untätigkeit und aus Mangel an materiellen Sorgen oft langweilen, „stärkere Erregungen, Sensationen,<br />
Leidenschaften“, die dem sonst monotonen und farblosen Leben der höheren Gesellschaft Farbe und Mannigfaltigkeit<br />
geben und es anziehend machen. Aber in starken Erregungen und feurigen Leidenschaften verbraucht<br />
sich der Mensch schneller: wie sollte man das angegriffe-[525]ne Aussehen, die Blässe einer schönen Frau nicht<br />
reizend finden, wenn sie das Anzeichen dafür sind, daß sie eine „Frau mit Vergangenheit“ ist<br />
Gern seh’ ich frische Farben blinken,<br />
der Jugend Zier,<br />
Doch sehnsuchtsblasse Wangen dünken<br />
noch schöner mir.<br />
Aber wenn die Begeisterung für eine blasse, krankhafte Schönheit das Anzeichen eines künstlich verdorbenen<br />
Geschmackes ist, so fühlt jeder wahrhaft gebildete Mensch, daß das wahre Leben das Leben des Geistes und des<br />
Herzens ist. Dieses Leben spiegelt sich in den Gesichtszügen, vor allem in den Augen wider; deswegen gewinnt<br />
der Gesichtsausdruck, von dem in den Volksliedern so wenig die Rede ist, eine große Bedeutung in den herrschenden<br />
Schönheitsbegriffen der Gebildeten; und es kommt häufig vor, daß ein Mensch uns nur deshalb schön<br />
erscheint, weil er schöne, ausdrucksvolle Augen hat... Wir müssen jetzt die entgegengesetzte Seite des Gegenstandes<br />
betrachten und untersuchen, was einen Menschen häßlich macht. Den Grund für die Häßlichkeit der<br />
Gesamtfigur eines Menschen wird jeder darin sehen, daß der Mensch, der eine schlechte Figur hat, „schlecht<br />
gebaut“ ist. Wir wissen sehr tut, daß Häßlichkeit eine Folge von Krankheit oder von Unglücksfällen ist, wie sie<br />
den Menschen besonders leicht in der ersten Zeit seiner Entwicklung entstellen. Wenn das Leben und seine<br />
Erscheinungen die Schönheit ausmachen, ist es ganz natürlich, daß die Krankheit und ihre Folgen die Häßlichkeit<br />
sind. Aber ein schlechtgebauter Mensch ist auch mißgestaltet, wenngleich in geringerem Grade, und die<br />
Gründe für einen „schlechten Bau“ sind die gleichen wie die, die Mißgestalten hervorbringen, sie sind nur<br />
schwächer. Wenn der Mensch einen Buckel hat, so ist das die Folge unglücklicher Umstände, unter denen sich<br />
das erste Stadium seiner Entwicklung abspielte; aber ein krummer Rücken ist auch eine Art von Buckligkeit,<br />
nur in geringerem Maße, und muß die gleichen Ursachen haben. Überhaupt ist ein übelgebauter Mensch in gewissem<br />
Grade ein entstellter Mensch; seine Figur zeugt nicht von Leben, nicht von glücklicher Entwicklung,<br />
sondern von einer Entwicklung unter schweren, ungünstigen Umständen. Gehen wir von dem allgemeinen Umriß<br />
der Figur zum Gesicht über. Seine Züge können Unschön entweder an und für sich oder ihrem Ausdruck<br />
nach sein. Was uns in einem Gesicht nicht gefällt, ist ein „böser“, „unangenehmer“ Ausdruck, denn Bosheit ist<br />
ein Gift, das uns das Leben vergällt. Aber viel häufiger ist ein Gesicht nicht so sehr seinem Ausdruck, wie seinen<br />
Zügen nach „nicht schön“: Gesichtszüge sind nicht schön, wenn die Gesichtsknochen schlecht angeordnet<br />
sind, wenn Knorpel und Muskeln in ihrer Entwicklung mehr oder weniger den Stempel der Mißgestalt tragen,<br />
d. h. wenn die erste Entwicklung des Menschen unter ungünstigen Umständen vor sich gegangen ist.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013