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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 252<br />

von der Kunst sagen. Wenn der Künstler sich auf die bloße Nachbildung der Erscheinungen<br />

des Lebens beschränkt, befriedigt er unsere Neugier oder gibt unseren Erinnerungen an das<br />

Leben Nahrung. Wenn er dabei aber die nachgebildeten Erscheinungen erklärt und beurteilt,<br />

wird er zum Denker, und sein Werk erhält über seinen künstlerischen Wert hinaus noch eine<br />

höhere Bedeutung, eine wissenschaftliche Bedeutung. 7<br />

Von der allgemeinen Definition des Inhalts der Kunst führt ein natürlicher Übergang zu den<br />

Teilelementen, den Bestandteilen dieses Inhalts, und wir wollen hier die Ansichten des Autors<br />

vom Schönen und vom Erhabenen darlegen, bei deren Wesensbestimmung er mit der<br />

herrschenden Theorie nicht einverstanden ist, weil diese Theorie in den genannten Fällen<br />

nicht mehr dem heutigen Stand der Wissenschaft entspricht. Er mußte diese Begriffe analysieren,<br />

weil ihre gewöhnliche Definition die direkte Quelle des Gedankens von der Überlegenheit<br />

der Kunst über die Wirklichkeit bildet: die Begriffe des Schönen und des Erhabenen<br />

dienen der herrschenden Theorie als Bindeglied zwischen den allge-[523]meinen idealistischen<br />

Grundsätzen und den besonderen ästhetischen Gedanken. Der Autor mußte diese wichtigen<br />

Begriffe von allen transzendentalen Zutaten reinigen, um sie zur Übereinstimmung mit<br />

dem Geist seiner Theorie zu bringen.<br />

Die herrschende Theorie besitzt zwei Formeln für den Ausdruck ihrer Auffassung vom Schönen:<br />

„das Schöne ist die Einheit von Idee und Bild“ und „das Schöne ist die volle Offenbarung<br />

der Idee im einzelnen Gegenstand“; der Verfasser ist der Meinung, daß die letztgenannte Formel<br />

ein wesentliches Merkmal nicht der Idee des Schönen nennt, sondern dessen, was als Meisterwerk<br />

der Kunst oder überhaupt jeder menschlichen Tätigkeit bezeichnet wird, während die<br />

erste Formel zu weit gefaßt ist: sie sagt, schön seien jene Gegenstände, die besser sind als andere<br />

ihrer Art; es gibt jedoch viele Arten von Gegenständen, die es nicht zur Schönheit bringen.<br />

Deshalb hält er die beiden herrschenden Formulierungen für nicht völlig befriedigend und sieht<br />

sich genötigt, nach einer exakteren Bestimmung zu suchen, die er, wie ihm scheint, in der Formel<br />

findet: „Das Schöne ist das Leben; schön ist das Wesen, in dem wir das Leben so sehen,<br />

wie es nach unserer Auffassung sein sollte; schön ist der Gegenstand, der das Leben in sich zur<br />

Schau trägt oder uns an das Leben gemahnt.“ Wir wollen hier den wesentlichen Teil der Analyse<br />

anführen, auf die sich diese Schlußfolgerung stützt – die Untersuchung der Merkmale der<br />

menschlichen Schönheit, wie die verschiedenen Klassen des Volkes sie verstehen.<br />

Das schöne Leben, das Leben wie es sein soll, besteht beim einfachen Volk darin, daß man sich satt essen, in<br />

einem schönen Haus wohnen und sich ausschlafen kann; aber gleichzeitig schließt der Begriff „Leben“ beim<br />

Landbewohner stets auch den Begriff der Arbeit ein: ohne Arbeit kann man nicht leben; es wäre ja auch langweilig.<br />

Die Folge eines Lebens unter auskömmlichen Verhältnissen bei großer Arbeit, die jedoch nicht bis zur<br />

Erschöpfung geht, werden bei dem Dorfmädchen eine frische Gesichtsfarbe und knallrote Backen sein – dieses<br />

erste Schönheitsmerkmal nach den Begriffen des einfachen Volkes. Da das Dorfmädchen viel arbeitet und infolgedessen<br />

kräftig gebaut ist, wird es bei reichlicher Ernährung ziemlich drall sein – auch das ist ein notwendiges<br />

Merkmal der Dorfschönen: die „ätherische“ schöne Dame [524] erscheint dem Landbewohner „unansehn-<br />

7 Im Manuskript heißt es weiter: „Der Gedanke, daß die Kunst nicht nur nicht über die Wirklichkeit hinaus<br />

kann, sondern daß sie es ihr, was den ästhetischen Wert ihrer Schöpfungen betrifft, nicht einmal gleichtun kann,<br />

wird aus der einfachen Anwendung der allgemeinen Prinzipien der modernen Weltanschauung auf die gegebene<br />

Frage abgeleitet, und der Rezensent hielt sich für berechtigt zu sagen, daß dieser Gedanke der Kritik standhält.<br />

Die weiteren, mehr ins einzelne gehenden Auffassungen Herrn Tschernyschewskis darüber, daß die Kunst<br />

Nachbildung der Natur ist und zu ihrem Inhalt alles hat, was den Menschen in den Erscheinungen des Lebens<br />

interessiert, stehen zwar im Einklang und sind sogar ziemlich stark wissenschaftlich abhängig von den allgemeinen<br />

Auffassungen der Beziehung der Kunst zur Wirklichkeit, werden jedoch letzten Endes nicht so sehr<br />

durch diese Auffassungen als durch die Analyse der Tatsachen bestimmt, die die Kunst darbietet; deswegen<br />

überläßt der Rezensent die Verantwortung für diese konkreten Gedanken dem Autor selber, und wenn der Rezensent<br />

sich erlaubt hinzuzufügen, daß sie ihm ebenfalls im wesentlichen richtig erscheinen, so ist das seine<br />

Meinung, aber kein endgültig wissenschaftliches Urteil. Die Gerechtigkeit verlangt jedoch anzuerkennen, daß<br />

der Autor in seiner Analyse eine große Menge von Tatsachen zur Bekräftigung seiner Theorie beigebracht hat.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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