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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 251<br />
friedenstellenden Teil in den Darlegungen Herrn Tschernyschewskis aus, der diesen Punkt,<br />
scheint es, für so klar hält, daß er fast keines Beweises bedürfe. Wir bestreiten nicht die<br />
Schlußfolgerung selbst, die der Autor sich zu eigen macht, sondern sind nur mit seiner Darstellung<br />
unzufrieden. Er hätte viel mehr Beispiele anführen müssen, um seinen Gedanken zu<br />
beweisen, daß „der Inhalt der Kunst sich nicht auf den engen Rahmen des Schönen, Erhabenen<br />
und Komischen beschränkt“, er hätte leicht tausende Tatsachen finden können, die di<br />
Richtigkeit dieses Gedankens beweisen, [521] und die Schuld des Autors wächst dadurch,<br />
daß er sich so wenig hierum bemüht hat.<br />
Wenn aber viele Kunstwerke nur den einen Sinn haben, Erscheinungen des Lebens nachzubilden,<br />
die für den Menschen von Interesse sind, so übernehmen viele von ihnen außer dieser<br />
Grundbestimmung noch eine andere, höhere: als Erklärung für diese nachgebildeten Erscheinungen<br />
zu dienen; besonders muß das von der Dichtung gesagt werden, die nicht imstande<br />
ist, alle Einzelheiten zu umfassen, deshalb notwendig viele Details aus ihren Bildern weglassen<br />
muß und unsere Aufmerksamkeit dadurch auf die wenigen zurückbehaltenen Züge konzentriert<br />
– wenn die zurückbehaltenen Züge, wie es sich eigentlich gehört, wesentliche Züge<br />
sind, wird es dem ungeübten Auge dadurch leichter, das Wesen des Gegenstandes zu erfassen.<br />
Hierin sehen manche die Überlegenheit der poetischen Bilder über die Wirklichkeit, aber<br />
das Weglassen der unwesentlichen Details und die Wiedergabe nur der Hauptzüge ist keine<br />
besondere Eigenschaft der Dichtung, sondern eine Eigentümlichkeit der vernünftigen Rede<br />
überhaupt, und in der prosaischen Erzählung spielt sich genau das gleiche ab. 6<br />
Wenn schließlich der Künstler ein denkender Mensch ist, muß er notwendigerweise sein eigenes<br />
Urteil über die nachgebildeten Erscheinungen haben, und dieses Urteil wird sich, gewollt<br />
oder ungewollt, offen oder im geheimen, bewußt oder unbewußt in dem Werk widerspiegeln,<br />
welches hierdurch noch eine dritte Bestimmung erhält; es wird zum Urteil des Denkens<br />
über die nachgebildete Erscheinung. Diese Bestimmung finden wir in der Dichtung häufiger<br />
als in den anderen Künsten.<br />
Alles Gesagte zusammenfassend – schließt Herr Tschernyschewski –‚ erhalten wir folgende<br />
Auffassung von der Kunst: Die wesentliche Bestimmung der Kunst ist die Nachbildung alles<br />
dessen, was für den Menschen im Leben interessant ist; sehr häufig tritt besonders in der<br />
Dichtung auch die Erklärung des Lebens, die Beurteilung seiner Erscheinungen in den Vordergrund.<br />
Die Kunst verhält sich zur Wirklichkeit genau so wie die Geschichte; der Unterschied<br />
besteht inhaltlich nur darin, daß die Geschichte vom gesell-[522]schaftlichen Leben<br />
spricht, die Kunst dagegen vom individuellen Leben, die Geschichte – vom Leben der<br />
Menschheit, die Kunst – vom Leben des Menschen (die Naturbilder haben nur als Milieu für<br />
die Erscheinungen des menschlichen Lebens Bedeutung und als Andeutung oder Vorgefühl<br />
dieser Erscheinungen. Was den formalen Unterschied betrifft, bestimmt der Autor ihn folgendermaßen:<br />
die Geschichtsschreibung sorgt sich wie jede Wissenschaft nur um Klarheit,<br />
Verständlichkeit ihrer Bilder; die Kunst sorgt für lebendige Fülle der Einzelheiten). Die erste<br />
Aufgabe der Geschichtsschreibung ist es, das Vergangene wiederzugeben; die zweite Aufgabe<br />
– der nicht alle Historiker gerecht werden – ist, die Vergangenheit zu erklären, ein Urteil<br />
über sie zu fällen; der Historiker, der diese zweite Aufgabe unbeachtet läßt, bleibt ein einfacher<br />
Chronist, und sein Werk ist nur Material für den wahren Historiker oder dient als Lektüre<br />
zur Befriedigung der Neugierde; der Historiker, der die zweite Aufgabe löst, wird zum<br />
Denker, und seine Schöpfung erhält wissenschaftlichen Wert. Genau das gleiche muß man<br />
6 Im Manuskript heißt es weiter: „Dasselbe tut auch das Inhaltsverzeichnis eines Buches mit dem Text des Buches;<br />
gewiß läßt sich an Hand des Inhaltsverzeichnisses der Inhalt des Buches leichter übersehen, als wenn man<br />
hintereinander den ganzen Text liest; folgt hieraus aber, daß das Inhaltsverzeichnis der Gedichte Puschkins<br />
besser ist als die Gedichte selber“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013