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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 250<br />
Meinung, exakter und vollständiger definiert wird.) Die erste Bestimmung der Kunst, die ausnahmslos allen ihren<br />
Werken zukommt, ist also die Nachbildung der Natur und des Lebens. Die Kunstwerke verhalten sich zu den entsprechenden<br />
Seiten und Erscheinungen der Wirklichkeit genau so wie der Stich zu dem Bild, nach dem er gemacht<br />
ist, wie das Porträt zu dem Menschen, den es darstellt. Man macht ja nicht deshalb einen Stich nach einem Bild,<br />
weil das Bild schlecht wäre, sondern gerade deshalb, weil es sehr gut ist; ebenso bildet die Kunst die Wirklichkeit<br />
nicht nach, um deren Mängel auszugleichen, nicht deshalb, weil die Wirklichkeit an sich nicht gut genug wäre,<br />
sondern gerade deshalb, weil sie gut ist. Der Stich denkt gar nicht daran, besser zu sein als das Bild – er, ist in<br />
künstlerischer Beziehung bedeutend schlechter als das Bild; ebenso kommt auch [519] das Kunstwerk niemals an<br />
die Schönheit oder Größe der Wirklichkeit heran; aber das Bild ist nur einmal vorhanden, an ihm können sich nur<br />
die Menschen ergötzen, die in die Galerie gekommen sind, deren Zierde es ist; der Stich wird in Hunderten von<br />
Exemplaren über die ganze Welt verbreitet; jedermann kann sich, wenn er Lust hat, an ihm ergötzen, ohne sein<br />
Zimmer zu verlassen, ohne von seinem Sofa aufzustehen, ohne seinen Schlafrock auszuziehen; so ist auch der in<br />
der Wirklichkeit schöne Gegenstand nicht jedem und nicht immer zugänglich. Von der Kunst nachgebildet<br />
(schwach, grob, blaß, das ist wahr, aber doch nachgebildet), wird er jedermann und ständig zugänglich. Wir porträtieren<br />
einen Menschen nicht, um die Mängel seines Gesichts auszugleichen (was kümmern uns diese Mängel Wir<br />
bemerken sie nicht oder sie sind uns lieb), sondern um uns die Möglichkeit zu verschaffen, uns an seinem Gesicht<br />
selbst dann zu erfreuen, wenn wir es tatsächlich gar nicht vor Augen haben; den gleichen Zweck und die gleiche<br />
Bestimmung haben die Werke der Kunst überhaupt: sie korrigieren die Wirklichkeit nicht, sie verschönern sie<br />
nicht, sondern bilden sie nach, dienen ihr als Surrogat.<br />
Der Autor gibt zu, daß die von ihm vorgeschlagene Theorie der Nachbildung nichts Neues ist:<br />
eine ähnliche Ansicht von der Kunst herrschte in der griechischen Welt; zugleich behauptet er<br />
jedoch, daß seine Theorie wesentlich verschieden ist von der pseudoklassischen Theorie der<br />
Nachahmung der Natur und beweist diesen Unterschied dadurch, daß er die Kritik der pseudoklassischen<br />
Auffassungen aus Hegels Ästhetik zitiert: nicht einer der Einwände Hegels, die<br />
auf die Theorie der Nachahmung der Natur vollkommen zutreffen, ist auf die Theorie der<br />
Nachbildung anwendbar; deswegen ist offenbar auch der Geist dieser beiden Auffassungen<br />
wesentlich verschieden. Tatsächlich hat die Nachbildung den Zweck, der Einbildung behilflich<br />
zu sein, nicht aber die Sinne zu betrügen, wie das die Nachahmung möchte, und ist auch kein<br />
leerer Zeitvertreib wie die Nachahmung, sondern ein Ding mit einem realen Zweck.<br />
Zweifellos wird die Theorie der Nachbildung, wenn sie Aufmerksamkeit findet, heftige Ausfälle<br />
von seiten der Anhänger der Theorie des Schöpfertums zur Folge haben. Man wird sagen,<br />
daß sie zur Daguerreotyp-Kopierung der Wirklichkeit führt, gegen die man so häufig zu<br />
Felde zieht; Herr Tschernyschewski lehnt den Gedanken des sklavischen Kopierens von<br />
vornherein ab und zeigt, daß auch in der [520] Kunst der Mensch nicht auf sein – sagen wir<br />
nicht Recht, das ist zu wenig, auf seine Pflicht verzichten kann, sich aller seiner moralischen<br />
und geistigen Kräfte, darunter auch der Einbildungskraft, zu bedienen, wenn er den Gegenstand<br />
auch nur einigermaßen getreu kopieren will. Man empört sich häufig gegen das sogenannte<br />
sagt er und fügt hinzu: Wäre es nicht besser, nur zu sagen, daß das Kopieren wie jede<br />
menschliche Tätigkeit verstanden sein will und die Fähigkeit erfordert, die wesentlichen Züge<br />
von den unwesentlichen zu unterscheiden Man sagt gewöhnlich „tote Kopie“; aber der<br />
Mensch kann nicht getreu kopieren, wenn der Mechanismus seiner Hand nicht durch lebendigen<br />
Sinn gelenkt wird: man kann nicht einmal ein getreues Faksimile herstellen, wenn man<br />
die Bedeutung der zu kopierenden Buchstaben nicht versteht.<br />
Mit den Worten: „die Kunst ist Nachbildung der Erscheinungen der Natur und des Lebens“,<br />
wird jedoch nur die Art und Weise bestimmt, auf welche die Kunstwerke geschaffen werden;<br />
es bleibt noch die Frage, welche Erscheinungen durch die Kunst nachgebildet werden; nach<br />
Bestimmung des formalen Prinzips der Kunst muß, der Vollständigkeit des Begriffs halber,<br />
auch das reale Prinzip oder der Inhalt der Kunst bestimmt werden. Gewöhnlich sagt man, den<br />
Inhalt der Kunst bilden nur das Schöne und die ihm zugeordneten Begriffe – das Erhabene<br />
und das Komische. Der Autor hält diese Auffassung für zu eng und behauptet, zum Bereich<br />
der Kunst gehöre alles, was im Leben und in der Natur für den Menschen von Interesse ist.<br />
Der Beweis dieser These ist sehr ungenügend entwickelt und macht den am wenigsten zu-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013