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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 249<br />

Kunstwerke dann, wann wir wollen, d. h. wenn wir geneigt sind, uns ihren Schönheiten zu<br />

öffnen und sie zu genießen, während die schönen Erscheinungen der Natur und des Lebens<br />

sehr häufig in einer Zeit an uns vorüberziehen, wo unsere Aufmerksamkeit und Sympathie<br />

anderen Gegenständen gelten; darüber hinaus zählt der Autor noch einige Gründe für die übertrieben<br />

hohe Meinung vom Wert der Kunst auf. Diese Erklärungen sind nicht ganz vollständig<br />

– der Autor hat einen sehr wichtigen Umstand vergessen: die Meinung von der Überlegenheit<br />

der Kunst über die Wirklichkeit ist die Meinung der Gelehrten, die Meinung einer philosophischen<br />

[517] Schule, nicht aber das Urteil des Menschen im allgemeinen, der keine systematischen<br />

Überzeugungen hat; gewiß stellt die Masse der Menschen die Kunst sehr hoch, vielleicht<br />

sogar höher, als der bloße innere Wert der Kunst es rechtfertigt, und diese parteiische<br />

Voreingenommenheit wird durch die Hinweise des Autors befriedigend erklärt; aber die Masse<br />

der Menschen stellt die Kunst durchaus nicht über die Wirklichkeit, im Gegenteil, sie denkt<br />

gar nicht daran, sie nach ihrem Wert zu vergleichen, und wird, wenn sie einmal eine klare<br />

Antwort geben muß, sagen, daß Natur und Leben schöner sind als die Kunst. Einzig und allein<br />

die Ästhetiker, und selbst sie nicht einmal aller Schulen, stellen die Kunst höher als die Wirklichkeit,<br />

und diese Meinung, die als Folge einer besonderen, nur ihnen eigenen Betrachtungsweise<br />

zustande gekommen ist, muß aus dieser Betrachtungsweise erklärt werden. Gerade die<br />

Ästhetiker der pseudoklassischen Schule zogen die Kunst der Wirklichkeit deshalb vor, weil<br />

sie überhaupt an der Krankheit ihres Jahrhunderts und ihres Milieus litten, nämlich an der<br />

Künstlichkeit aller ihrer Gewohnheiten und Begriffe: sie hatten nicht allein in der Kunst, sondern<br />

in allen Sphären des Lebens Angst, ja sogar Abscheu vor der Natur, wie sie ist, und liebten<br />

nur die ausgeschmückte, „reingewaschene“ Natur. Die Denker der heute herrschenden<br />

Schule stellen die Kunst als etwas Ideales über die Natur und das Leben, die real sind, weil sie<br />

sich überhaupt trotz genialer Vorstöße zum Realismus noch nicht vom Idealismus freizumachen<br />

verstanden haben und das ideale Leben überhaupt über das reale stellen.<br />

Kehren wir zur Theorie Herrn Tschernyschewskis zurück. Wenn die Kunst sich hinsichtlich<br />

der Schönheit ihrer Werke nicht mit der Wirklichkeit messen kann, kann sie ihre Entstehung<br />

nicht unserer Unzufriedenheit mit der Schönheit der Wirklichkeit und dem Streben, etwas<br />

Besseres zu schaffen, verdanken – wenn das so wäre, hätte der Mensch die Kunst längst fallen<br />

gelassen, wie etwas, was seinen Zweck absolut nicht erreicht und steril ist, sagt er.<br />

Deshalb muß das Bedürfnis, dem die Kunst antwortet, etwas anderes sein, als was die herrschende<br />

Theorie annimmt. Bis hierher wer-[518]den alle, die die Grundauffassung Herrn<br />

Tschernyschewskis vom Leben und der Natur teilen, wahrscheinlich sagen, daß seine Schlußfolgerungen<br />

konsequent sind. Wir möchten jedoch nicht entscheiden, ob er die Erklärung des<br />

Bedürfnisses, aus dem die Kunst entsteht, durchaus richtig gewählt hat; wir wollen diese<br />

Schlußfolgerung in seinen eigenen Worten anführen, damit der Leser sich selbst ein Urteil<br />

bilden kann, ob sie richtig oder unrichtig ist.<br />

Das Meer ist durchaus schön; wenn wir es betrachten, kommen wir nicht auf den Gedanken, in ästhetischer Hinsicht<br />

mit ihm unzufrieden zu sein; doch nicht alle Menschen leben in der Nähe des Meeres; viele bekommen es<br />

kein einziges Mal im Leben zu sehen, und doch möchten sie sich am Meer erfreuen, und es kommen für sie Bilder<br />

zustande die das Meer darstellen. Gewiß ist es sehr viel besser, das Meer selbst zu betrachten als seine Darstellung;<br />

aber in Ermangelung eines Besseren begnügt sich der Mensch mit dem Schlechteren, in Ermangelung der Sache<br />

selbst – mit ihrem Surrogat. Auch die Menschen, die sich in der Wirklichkeit am Meer erfreuen können, haben<br />

nicht immer die Möglichkeit, es nach Belieben zu betrachten – sie gedenken seiner; doch die Phantasie ist<br />

schwach, sie bedarf einer Stütze, einer Mahnung, und so betrachten die Menschen, um ihre eigene Erinnerung an<br />

das Meer zu beleben, um es sich in ihrer Einbildung klarer vorzustellen, ein Bild, auf dem das Meer dargestellt ist.<br />

Das ist der einzige Zweck, die einzige Bestimmung sehr vieler Kunstwerke (ihres größten Teils): den Menschen,<br />

die nicht Gelegenheit hatten, das Schöne in der Wirklichkeit selber zu genießen, Gelegenheit zu geben, es wenigstens<br />

in einem gewissen Grade kennenzulernen; als Mahnung zu dienen und den Menschen die eigene Erinnerung<br />

an das Schöne in der Wirklichkeit wachzurufen, die es aus eigener Erfahrung kennen und sich gern daran erinnern.<br />

(Wir bleiben einstweilen bei dem Ausdruck: „das Schöne ist der wesentliche Inhalt der Kunst“; in der Folge werden<br />

wir an die Stelle des Wortes „das Schöne“ ein anderes setzen, durch das der Inhalt der Kunst, nach unserer<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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