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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 245<br />

auf der Zunge. Sie sagen, daß Sie die Wissenschaft lieben – das wird damit entschieden, ob<br />

Sie sich mit ihr befassen. Sie bilden sich ein, die Kunst zu lieben Das wird damit entschieden,<br />

ob Sie häufig Puschkin lesen oder ob seine Werke [509] nur zum Ansehen auf Ihrem<br />

Tisch liegen; ob Sie häufig in Ihre Gemäldegalerie gehen – ob Sie für sich allein dorthin gehen,<br />

und nicht nur in Gesellschaft von Gästen, oder ob Sie die Bilder nur zusammengetragen<br />

haben, um sich vor anderen und sich selbst mit Ihrer Liebe zur Kunst zu brüsten. Die Praxis<br />

ist die große Enthüllerin allen Betrugs und Selbstbetrugs nicht nur in praktischen Dingen,<br />

sondern auch im Fühlen und Denken. Deswegen ist sie heute in der Wissenschaft als das wesentliche<br />

Kriterium in allen Streitfragen anerkannt. „Was in der Theorie strittig ist, wird<br />

durch die Praxis des wirklichen Lebens glatt entschieden.“<br />

Diese Begriffe würden für viele Menschen jedoch unbestimmt bleiben, wenn wir hier nicht<br />

daran erinnern würden, welchen Sinn in der modernen Wissenschaft die Worte „Wirklichkeit“<br />

und „Praxis“ haben. Die Wirklichkeit schließt nicht nur die unbelebte Natur in sich,<br />

sondern auch das Menschenleben, nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit,<br />

soweit sie zur Tat geworden ist, und auch die Zukunft, soweit sie durch die Gegenwart vorgebildet<br />

ist. Die Taten Peters des Großen gehören der Wirklichkeit an; die Oden Lomonossows<br />

gehören ihr ebenso an wie seine Mosaikbilder. Nicht gehören ihr nur die müßigen<br />

Worte von Menschen an, die da sagen: „Ich möchte gerne Maler sein“ – und nicht Malerei<br />

studieren, „ich möchte gerne Dichter sein“ – und nicht den Menschen und die Natur studieren.<br />

Nicht das Denken steht im Gegensatz zur Wirklichkeit, weil das Denken aus der Wirklichkeit<br />

geboren wird und zur Verwirklichung drängt, weil es einen untrennbaren Bestandteil<br />

der Wirklichkeit bildet – sondern nur der müßige Traum, der aus Nichtstun geboren wird und<br />

bloßer Zeitvertreib eines Menschen bleibt, der mit halb geschlossenen Augen und mit den<br />

Händen im Schoße dazusitzen pflegt. Genau so schließt auch das „praktische Leben“ nicht<br />

nur die materielle Tätigkeit des Menschen ein, sondern auch seine geistige und moralische.<br />

Jetzt wird wohl auch der Unterschied klar sein zwischen den früheren transzendentalen Systemen,<br />

die, den phantastischen Träumen vertrauend, sagten, der Mensch suche [510] überall<br />

das Absolute und lehne das wirkliche Leben, da er das Absolute in ihm nicht fände, als unbefriedigend<br />

ab, die die Wirklichkeit an den nebelhaften Träumen der Phantasie maßen – und<br />

zwischen der neuen Betrachtungsweise, die sich, nachdem sie die Machtlosigkeit einer von<br />

der Wirklichkeit losgelosten Phantasie erkannt hat, in ihren Urteilen über den eigentlichen<br />

Wert der verschiedenen Wünsche des Menschen von den Tatsachen leiten läßt, die das wirkliche<br />

Leben und die Tätigkeit des Menschen liefern.<br />

Herr Tschernyschewski anerkennt durchaus die Richtigkeit der heutigen Richtung der Wissenschaft,<br />

sieht einerseits die Unhaltbarkeit der früheren metaphysischen Systeme, andererseits<br />

ihre untrennbare Verbundenheit mit der herrschenden ästhetischen Theorie und zieht<br />

daraus den Schluß, daß die herrschende Kunsttheorie durch eine andere ersetzt werden muß,<br />

die mit der neuen wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Natur und des Menschenlebens<br />

in Einklang steht. Bevor wir jedoch an die Darstellung seiner Auffassungen gehen, die nur<br />

eine Anwendung der allgemeinen Betrachtungsweise der neuen Zeit auf die Fragen der Ästhetik<br />

sind, müssen wir die Beziehungen klarstellen, die die neue Betrachtungsweise mit der<br />

alten in der Wissenschaft überhaupt verbinden. Wir sehen häufig, daß die Fortführer einer<br />

wissenschaftlichen Arbeit gegen ihre Vorläufer auftreten, deren Arbeiten den Ausgangspunkt<br />

ihrer eigenen Arbeiten abgegeben haben. So blickte Aristoteles feindlich auf Plato, so setzte<br />

Sokrates maßlos die Sophisten herab, deren Fortführer er war. Auch in der neueren Zeit lassen<br />

sich hierfür viele Beispiele finden. Es kommt jedoch gelegentlich der erfreuliche Fall vor,<br />

daß die Begründer eines neuen Systems volles Verständnis für den Zusammenhang ihrer<br />

Meinungen mit den Gedanken haben, die sich bei ihren Vorläufern finden, und sich bescheiden<br />

als deren Schüler bezeichnen; daß sie zwar die Unzulänglichkeit der Auffassungen ihrer<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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