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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 244<br />
weiß Nein, wir suchen nicht einmal nach einem Menschen, der alles wüßte; wir fordern von<br />
einem Gelehrten nur, daß er alles Wesentliche, weiß [507] und außerdem viele (wenn auch<br />
durchaus nicht alle) Einzelheiten kennt. Sind wir etwa zum Beispiel unzufrieden mit einem<br />
Geschichtsbuch, in dem nicht absolut alle Fragen erklärt, nicht absolut alle Einzelheiten angeführt,<br />
nicht bis ins Letzte alle Ansichten und Worte des Verfassers absolut richtig sind Nein,<br />
wir sind mit einem Buch zufrieden und sogar außerordentlich zufrieden, wenn in ihm die<br />
Hauptfragen gelöst, die unumgänglichsten Einzelheiten angeführt sind, wenn die wichtigsten<br />
Ansichten des Verfassers richtig sind und wenn sein Buch sehr wenig unrichtige oder ungeschickte<br />
Erklärungen enthält. Mit einem Wort, die Bedürfnisse der menschlichen Natur lassen<br />
sich durch das „Ordentliche“ zufriedenstellen, phantastische Vollkommenheit dagegen<br />
sucht nur eine müßige Phantasie. Unsere Sinne, unser Verstand und unser Herz wissen nichts<br />
von ihr, und auch die Phantasie redet von ihr nur in leeren Phrasen daher, hat aber auch keine<br />
lebendige, bestimmte Vorstellung von ihr.<br />
Die Wissenschaft hat sich also in jüngster Zeit genötigt gesehen, streng zu unterscheiden zwischen<br />
en wahren Bedürfnissen der menschlichen Natur, die nach Befriedigung im wirklichen<br />
Leben suchen und ein Recht auf sie haben, und den angeblichen, eingebildeten Bedürfnissen,<br />
die lediglich müßige Träume sind und bleiben sollen. Wir finden bei Herrn Tschernyschewski<br />
mehrfach flüchtige Hinweise auf diese Notwendigkeit, und einmal entwickelt er<br />
diesen Gedanken sogar etwas mehr. „Ein verbildeter Mensch (d. h. ein Mensch, der durch<br />
seine widernatürliche Stellung inmitten der anderen Menschen verdorben ist) hat viele künstliche,<br />
bis zur Verlogenheit, bis zur Phantasterei verzerrte Bedürfnisse, die nicht vollständig<br />
zu befriedigen sind, weil sie eigentlich nicht Bedürfnisse der Natur, sondern Wahnvorstellungen<br />
einer verdorbenen Einbildungskraft sind, denen man es kaum je recht machen kann, es<br />
sei denn, man will sich dem Spott und der Verachtung dieses selben Menschen, dem man es<br />
recht machen möchte, aussetzen, denn er fühlt selbst instinktiv, daß sein Bedürfnis keine Befriedigung<br />
verdient.“ (Seite 82 [464].)<br />
Wenn es aber so wichtig ist, einen Unterschied zu machen zwischen angeblichen, eingebildeten<br />
Bestrebungen, die [508] bestimmt sind, unklare Träumereien einer müßigen oder krankhaft<br />
gereizten Phantasie zu bleiben, und wirklichen, berechtigten Bedürfnissen der menschlichen<br />
Natur, die mit Notwendigkeit Befriedigung verlangen – wo ist dann das Kennzeichen,<br />
das uns erlaubt, diesen Unterschied zu machen, ohne Fehler zu begehen Wer ist der Richter<br />
in dieser so wichtigen Sache – Das Urteil fällt der Mensch selbst mit seinem Leben; wir<br />
müssen uns auch hier von der „Praxis“, diesem unwandelbaren Prüfstein aller Theorie, leiten<br />
lassen. Wir sehen, daß die einen unserer Wünsche fröhlich der Befriedigung entgegendrängen<br />
und den Menschen alle Kräfte anspannen lassen, um sich im wirklichen Leben durchzusetzen,<br />
– das sind die echten Bedürfnisse unserer Natur. Andere Wünsche dagegen fürchten die<br />
Berührung mit dem wirklichen Leben und sind ängstlich bemüht, sich vor ihm in das abstrakte<br />
Reich der Träumereien zu verstecken – das sind die eingebildeten, unechten Wünsche, die<br />
keine Erfüllung brauchen und die auch nur unter der Bedingung verführerisch sind, daß sie<br />
keine Befriedigung finden, weil sie beim Heraustreten in das „helle Licht“ des Lebens ihre<br />
ganze Leere offenbaren und zeigen würden, daß sie nicht dazu geeignet sind, den Bedürfnissen<br />
der menschlichen Natur tatsächlich zu entsprechen und die Bedingungen zu erfüllen, die<br />
zum Lebensgenuß nötig sind. „Die Tat ist die Wahrheit des Gedankens.“ So erfährt man beispielsweise<br />
durch die Tat, ob ein Mensch eine richtige Vorstellung von sich hat und die<br />
Wahrheit sagt, wenn er behauptet, er sei mutig, edel, wahr. Das Leben eines Menschen fällt<br />
die Entscheidung über seine Natur, gleichwie es über seine Bestrebungen und Wünsche die<br />
Entscheidung fällt. Sie behaupten, Sie haben Hunger – wir wollen einmal sehen, ob Sie bei<br />
Tisch wählerisch sein werden. Wenn Sie die einfachen Gerichte ablehnen und warten, bis<br />
man Ihnen Truthahn mit Trüffeln vorsetzt, haben Sie den Hunger nicht im Magen, sondern<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013