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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 240 eigentlich gar nicht braucht. Er möchte verwundet werden, er möchte ein ein-[499]facher Soldat sein, möchte unglücklich lieben, verzweifelt sein usw. – er kann nicht leben ohne diese ihm verführerisch erscheinenden Eigenschaften und Güter. Aber welchen Kummer würde ihm das Schicksal bereitet haben, wenn es auf den Gedanken gekommen wäre, seine Wünsche zu erfüllen! Er würde für immer auf die Liebe verzichtet haben, wenn er auf den Gedanken gekommen wäre, irgendein Mädchen könnte sich nicht in ihn verlieben. Es quält ihn im stillen, daß er noch nicht Offizier ist, er ist außer sich vor Begeisterung, als er die Nachricht von der ersehnten Beförderung erhält, und wirft die alte Uniform, auf die er in Worten so stolz war, verächtlich beiseite. In jedem Menschen steckt ein Stück Gruschnizki. Überhaupt pflegt der Mensch in einem verkehrten Milieu viele verkehrte Wünsche zu haben. Früher hat man diesem wichtigen Umstand keine Aufmerksamkeit geschenkt und jedesmal, wenn ein Mensch die Neigung zeigte, von diesem oder jenem zu träumen, jede Laune einer krankhaften oder müßigen Einbildungskraft sofort als tief eingewurzeltes und unverlierbares Bedürfnis der menschlichen Natur ausposaunt, das unbedingt Befriedigung verlange. Und was für unverlierbare Bedürfnisse hat man nicht alles im Menschen entdeckt! Alle Wünsche und Bestrebungen des Menschen wurden für grenzenlos und unstillbar erklärt. Jetzt geht man umsichtiger an die Sache heran. Jetzt untersucht man, unter welchen Umständen gewisse Wünsche sich entwickeln, unter welchen Umständen sie wieder zur Ruhe kommen. Dabei stellte sich eine sehr bescheidene, zugleich aber sehr tröstliche Tatsache heraus: die Bedürfnisse der menschlichen Natur sind eigentlich sehr gemäßigt; sie bringen es zu phantastisch riesiger Entwicklung nur infolge von Extremen, nur wenn der Mensch durch ungünstige Umstände krankhaft gereizt wird und wenn es völlig an einer einigermaßen ordentlichen Befriedigung fehlt. Selbst die Leidenschaften des Menschen werden nur ‚ dann „stürmisch aufbrausen“, wenn sie auf gar zu große Widerstände stoßen; wenn dagegen der Mensch in günstige Umstände gestellt ist, hören seine Leidenschaften auf zu brodeln und verlieren unter Beibehaltung ihrer Stärke das Chaotische, die alles verzehrende Gier, die Zerstörungswut. [500] Der gesunde Mensch ist durchaus nicht mäklig. Herr Tschernyschewski führt an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung zufällig einige Beispiele dafür an. Die Meinung, „das menschliche Verlangen“ sei „grenzenlos“, ist, sagt er, falsch in dem Sinne, in dem sie gewöhnlich aufgefaßt wird, in dem Sinne nämlich, daß „keine Wirklichkeit es befriedigen kann“; im Gegenteil, der Mensch gibt sich durchaus nicht nur „mit dem Besten, was es in der Wirklichkeit geben kann“, zufrieden, sondern schon mit einer recht mittelmäßigen Wirklichkeit. Man muß zu unterscheiden wissen zwischen dem, was wirklich gefühlt, und dem, was nur gesagt wird. Die Begierden werden durch Träumereien nur dann bis zu fieberhafter Spannung aufgereizt, wenn es ihnen völlig an gesunder, sei es auch noch so einfacher Nahrung fehlt. Das ist eine Tatsache, die durch die ganze Geschichte der Menschheit bewiesen wird, und die jeder, der lebt und sich beobachtet, an sich selbst erfahren hat. Sie stellt einen Sonderfall des allgemeinen Gesetzes des menschlichen Lebens dar, daß eine Leidenschaft sich nur dann anormal entwickelt, wenn sich der von ihr erfaßte Mensch in einer anormalen Lage befindet, und nur wenn das natürliche und im Grunde genommen recht ruhige Bedürfnis, dem diese oder jene Leidenschaft entspringt, allzu lange nicht die entsprechende – ruhige und durchaus nicht titanische – Befriedigung gefunden hat. Es steht außer Zweifel, daß der Organismus des Menschen titanische Triebe und Befriedigungen nicht verlangt und nicht vertragen kann; außer Zweifel steht auch, daß beim gesunden Menschen die Triebe mit den Kräften des Organismus in Einklang stehen. Man muß hierbei nur bemerken, daß unter „Gesundheit“ des Menschen hier auch die moralische Gesundheit gemeint ist. Fieber und erhöhte Temperatur sind die Folge einer Erkältung; die Leidenschaft, das moralische Fieber, ist ebenso eine Krankheit und erfaßt den Menschen ebenfalls, wenn er unter den zerstörenden Einfluß ungünstiger Umstände gerät. Beispiele hierfür sind leicht zu finden: eine Leidenschaft, in erster Reihe „die Liebe“, wie sie in Hunderten von Sensationsromanen beschrieben wird, verliert ihre romanhafte OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 241 Unbändigkeit, [501] sobald die Hindernisse beseitigt sind und das liebende Paar in die Ehe tritt; bedeutet das, daß Mann und Frau einander weniger stark lieben als in der stürmischen Periode, wo Hindernisse ihrer Vereinigung im Wege standen Durchaus nicht; jedermann weiß, daß wenn Mann und Frau einträchtig und glücklich zusammenleben, ihre Verbundenheit mit jedem Jahre stärker wird und schließlich einen solchen Grad annimmt, daß die beiden buchstäblich nicht „ohne einander leben können“, und daß, wenn einer von ihnen stirbt, das Leben für den anderen allen Reiz verliert, und zwar im buchstäblichen Sinn des Wortes, und nicht nur in Worten. Dabei hat aber diese außergewöhnlich große Liebe durchaus nichts Stürmisches. Warum Nur deshalb, weil ihr keine Hindernisse entgegenstehen. Phantastisch unmäßige Träume werden überhaupt nur dann unserer Herr, wenn wir in der Wirklichkeit zu armselig dran sind. Wer auf nackten Brettern liegt, der kann von einem Federbett aus Eiderdaunen träumen (fährt Herr Tschernyschewski fort); ein gesunder Mensch, der ein zwar nicht üppiges, aber hinreichend weiches und bequemes Bett hat, findet weder einen Vorwand noch das Verlangen, von Eiderdaunen zu träumen. Wer in der Tundra Sibiriens aufgewachsen ist, der kann von Zaubergärten mit überirdischen Bäumen, mit Zweigen aus Korallen, Blättern aus Smaragden und Früchten aus Rubinen träumen; aber wenn der Träumer, sagen wir, ins Kursker oder Kiewer Gouvernement versetzt wird und dort die Möglichkeit bekommt, nach Herzenslust in einem nicht gerade reichen, aber erträglichen Obstgarten mit Apfel-, Birn- und Sauerkirschenbäumen spazierenzugehen, wird er wahrscheinlich nicht nur die Gärten aus „Tausendundeiner Nacht“ vergessen, sondern auch die Zitronenhaine Spaniens. Die Einbildungskraft baut ihre Luftschlösser dann, wenn in Wirklichkeit nicht nur kein gutes Haus, sondern nicht einmal eine erträgliche Hütte vorhanden ist. Sie beginnt ihr Spiel dann, wenn die Sinne unbeschäftigt sind: das Fehlen zufriedenstellender Verhältnisse in der Wirklichkeit ist die Quelle des Lebens in der Phantasie. Doch kaum wird die Wirklichkeit einigermaßen erträglich, so erscheinen Uns mit ihr verglichen alle Träume der Einbildung lang-[502]weilig und blaß. Diese unbestrittene Tatsache, daß wir die anscheinend üppigsten und blendendsten Träume als unbefriedigend vergessen und fallen lassen, sobald wir mitten in den Erscheinungen des wirklichen Lebens stehen, kann als unwiderleglicher Beweis dafür dienen, daß die Träume unserer Einbildung, was Schönheit und Anziehungskraft angeht, weit hinter dem zurückbleiben, was die Wirklichkeit uns bietet. In dieser Auffassung liegt einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der veralteten Weltanschauung, unter deren Einfluß die transzendentalen Wissenschaftssysteme entstanden sind, und der modernen wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Natur und des Lebens. Heute anerkennt die Wissenschaft, nachdem sie eingesehen hat, wie blaß und unbefriedigend ein in phantastischen Träumen untergehendes Leben ist, daß die Wirklichkeit bei weitem höher steht als der Traum; früher nahm man an, ohne genauer nachzuforschen, daß die Träume unserer Einbildung tatsächlich besser und anziehender seien als die Vorgänge des wirklichen Lebens. Auf literarischem Gebiet trat diese frühere Bevorzugung des Traumlebens als Romantik in Erscheinung. 4 Aber wie gesagt, machte man früher keinen Unterschied zwischen den phantastischen Träumen und den wahren Bestrebungen der menschlichen Natur, zwischen den Bedürfnissen, deren Befriedigung Geist und Herz des Menschen wirklich verlangen, und den Luftschlössern, in denen der Mensch gar nicht würde leben wollen, wenn sie Wirklichkeit würden, weil er in ihnen nur leere Kälte und Hunger antreffen würde. Die Träume der müßigen Phantasie sind auf den ersten Blick höchst blendend; die Wünsche eines gesunden Kopfes und eines gesunden Herzens sind sehr gemäßigt; deshalb ließen sich die Denker, bevor die Analyse gezeigt hatte, wie blaß und kläglich Träume der ungehemmt ausschweifenden Phantasie sind, durch deren scheinbar blendende Farben täuschen und stellten sie über die wirklichen Gegenstände und Erscheinungen, denen der Mensch im Leben begegnet. Sind aber die Kräfte unse- 4 Weiter heißt es im Manuskript: „deren Mißgestalt und innere Armut heute bereits längst anerkannt sind“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 240<br />

eigentlich gar nicht braucht. Er möchte verwundet werden, er möchte ein ein-[499]facher<br />

Soldat sein, möchte unglücklich lieben, verzweifelt sein usw. – er kann nicht leben ohne diese<br />

ihm verführerisch erscheinenden Eigenschaften und Güter. Aber welchen Kummer würde<br />

ihm das Schicksal bereitet haben, wenn es auf den Gedanken gekommen wäre, seine Wünsche<br />

zu erfüllen! Er würde für immer auf die Liebe verzichtet haben, wenn er auf den Gedanken<br />

gekommen wäre, irgendein Mädchen könnte sich nicht in ihn verlieben. Es quält ihn im<br />

stillen, daß er noch nicht Offizier ist, er ist außer sich vor Begeisterung, als er die Nachricht<br />

von der ersehnten Beförderung erhält, und wirft die alte Uniform, auf die er in Worten so<br />

stolz war, verächtlich beiseite. In jedem Menschen steckt ein Stück Gruschnizki. Überhaupt<br />

pflegt der Mensch in einem verkehrten Milieu viele verkehrte Wünsche zu haben. Früher hat<br />

man diesem wichtigen Umstand keine Aufmerksamkeit geschenkt und jedesmal, wenn ein<br />

Mensch die Neigung zeigte, von diesem oder jenem zu träumen, jede Laune einer krankhaften<br />

oder müßigen Einbildungskraft sofort als tief eingewurzeltes und unverlierbares Bedürfnis<br />

der menschlichen Natur ausposaunt, das unbedingt Befriedigung verlange. Und was für<br />

unverlierbare Bedürfnisse hat man nicht alles im Menschen entdeckt! Alle Wünsche und Bestrebungen<br />

des Menschen wurden für grenzenlos und unstillbar erklärt. Jetzt geht man umsichtiger<br />

an die Sache heran. Jetzt untersucht man, unter welchen Umständen gewisse Wünsche<br />

sich entwickeln, unter welchen Umständen sie wieder zur Ruhe kommen. Dabei stellte<br />

sich eine sehr bescheidene, zugleich aber sehr tröstliche Tatsache heraus: die Bedürfnisse der<br />

menschlichen Natur sind eigentlich sehr gemäßigt; sie bringen es zu phantastisch riesiger<br />

Entwicklung nur infolge von Extremen, nur wenn der Mensch durch ungünstige Umstände<br />

krankhaft gereizt wird und wenn es völlig an einer einigermaßen ordentlichen Befriedigung<br />

fehlt. Selbst die Leidenschaften des Menschen werden nur ‚ dann „stürmisch aufbrausen“,<br />

wenn sie auf gar zu große Widerstände stoßen; wenn dagegen der Mensch in günstige Umstände<br />

gestellt ist, hören seine Leidenschaften auf zu brodeln und verlieren unter Beibehaltung<br />

ihrer Stärke das Chaotische, die alles verzehrende Gier, die Zerstörungswut. [500] Der<br />

gesunde Mensch ist durchaus nicht mäklig. Herr Tschernyschewski führt an verschiedenen<br />

Stellen seiner Untersuchung zufällig einige Beispiele dafür an. Die Meinung, „das menschliche<br />

Verlangen“ sei „grenzenlos“, ist, sagt er, falsch in dem Sinne, in dem sie gewöhnlich<br />

aufgefaßt wird, in dem Sinne nämlich, daß „keine Wirklichkeit es befriedigen kann“; im Gegenteil,<br />

der Mensch gibt sich durchaus nicht nur „mit dem Besten, was es in der Wirklichkeit<br />

geben kann“, zufrieden, sondern schon mit einer recht mittelmäßigen Wirklichkeit. Man muß<br />

zu unterscheiden wissen zwischen dem, was wirklich gefühlt, und dem, was nur gesagt wird.<br />

Die Begierden werden durch Träumereien nur dann bis zu fieberhafter Spannung aufgereizt,<br />

wenn es ihnen völlig an gesunder, sei es auch noch so einfacher Nahrung fehlt. Das ist eine<br />

Tatsache, die durch die ganze Geschichte der Menschheit bewiesen wird, und die jeder, der<br />

lebt und sich beobachtet, an sich selbst erfahren hat. Sie stellt einen Sonderfall des allgemeinen<br />

Gesetzes des menschlichen Lebens dar, daß eine Leidenschaft sich nur dann anormal<br />

entwickelt, wenn sich der von ihr erfaßte Mensch in einer anormalen Lage befindet, und nur<br />

wenn das natürliche und im Grunde genommen recht ruhige Bedürfnis, dem diese oder jene<br />

Leidenschaft entspringt, allzu lange nicht die entsprechende – ruhige und durchaus nicht titanische<br />

– Befriedigung gefunden hat. Es steht außer Zweifel, daß der Organismus des Menschen<br />

titanische Triebe und Befriedigungen nicht verlangt und nicht vertragen kann; außer<br />

Zweifel steht auch, daß beim gesunden Menschen die Triebe mit den Kräften des Organismus<br />

in Einklang stehen. Man muß hierbei nur bemerken, daß unter „Gesundheit“ des Menschen<br />

hier auch die moralische Gesundheit gemeint ist. Fieber und erhöhte Temperatur sind die<br />

Folge einer Erkältung; die Leidenschaft, das moralische Fieber, ist ebenso eine Krankheit und<br />

erfaßt den Menschen ebenfalls, wenn er unter den zerstörenden Einfluß ungünstiger Umstände<br />

gerät. Beispiele hierfür sind leicht zu finden: eine Leidenschaft, in erster Reihe „die Liebe“,<br />

wie sie in Hunderten von Sensationsromanen beschrieben wird, verliert ihre romanhafte<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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