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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 239<br />

verehrter Leser, sich mit den ‚Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit‘ zufrieden<br />

geben.“ Ein solches Vorwort wäre ehrlich und schön gewesen.<br />

Wirklich kann die Ästhetik ein gewisses Interesse für das Denken darbieten, weil die Lösung<br />

ihrer Probleme von der Beantwortung anderer, interessanteren Fragen abhängt, und wir hoffen,<br />

daß jeder, der einige gute Werke über diese Wissenschaft kennt, hiermit einverstanden<br />

ist. Aber Herr Tschernyschewski eilt zu schnell über die Punkte hinweg, in denen die Ästhetik<br />

sich mit dem Gesamtsystem der Auffassungen von Natur und Leben berührt. Bei der Darstellung<br />

der herrschenden Kunsttheorie spricht er fast gar nicht davon, auf welchen allgemeinen<br />

Grundlagen sie sich aufbaut, und untersucht blättchenweise nur jenen Zweig des „Baums<br />

des Denkens“ (dem Beispiel einiger unserer hausbackenen Denker folgend, verwenden wir<br />

hier einen Ausdruck aus dem „Lied von Igors Heerfahrt“), der ihn speziell beschäftigt, ohne<br />

uns zu erklären, was das für ein Baum ist, der diesen Zweig hervorgebracht hat, obwohl bekanntlich<br />

derartige Unterschlagungen der Klarheit durchaus nicht förderlich sind. 3 Ebenso<br />

bekräftigt er auch seine eigenen ästhetischen Auffassungen, wenn er sie darlegt, nur mit Tatsachen<br />

aus dem Bereich der Ästhetik, ohne uns die allgemeinen Grundsätze darzustellen, aus<br />

deren Anwendung auf die Fragen der Ästhetik seine Kunsttheorie sich gebildet hat, obwohl<br />

er, nach seinem eigenen Ausdruck, nur „die ästhetischen Fragen auf den Nenner bringt, den<br />

die moderne wissenschaftliche Auffassung vom Leben und der Welt liefert“. Das ist, unserer<br />

Meinung nach, ein bedeutender Mangel, und er ist die Ursache dafür, daß der innere Sinn der<br />

Theorie, die der Autor vertritt, für viele dunkel bleibt, die vom Autor entwickelten Gedanken<br />

dagegen als [498] von ihm persönlich stammend erscheinen können, worauf er, nach unserer<br />

Meinung, nicht den geringsten Anspruch hat: er sagt selbst, daß wenn die frühere, von ihm<br />

abgelehnte Kunsttheorie bis heute in den Lehrbüchern der Ästhetik beibehalten wird, „die<br />

von ihm angenommene Anschauung ständig in der Literatur und im Leben geäußert wird“<br />

(Seite 92 [477]). Er sagt selber: „Die von uns angenommene Betrachtungsweise der Kunst<br />

entspringt den Anschauungen der neuesten deutschen Ästhetiker (die vom Autor widerlegt<br />

werden) und geht aus ihnen durch einen dialektischen Prozeß hervor, dessen Richtung durch<br />

die allgemeinen Ideen der modernen Wissenschaft bestimmt wird. Sie ist also unmittelbar mit<br />

zwei Systemen von Ideen verbunden – deren eines aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, das<br />

andere aus den letzten (zwei – fügen wir von uns aus hinzu) Jahrzehnten stammt.“ (Seite 90<br />

[475]) Mußten danach nicht, fragen wir, diese zwei Systeme der allgemeinen Weltanschauung<br />

soweit erforderlich dargestellt werden Eine Unterlassung, die für jedermann, mit Ausnahme<br />

vielleicht des Autors selber, unverständlich und jedenfalls äußerst spürbar ist.<br />

Obwohl der Rezensent sich vorgenommen hat, die Rolle des bloßen Darstellers der vom Autor<br />

vorgelegten Theorien zu spielen, muß er das tun, was jener selbst zur Erklärung seiner<br />

Gedanken hätte tun müssen, aber nicht getan hat.<br />

In jüngster Zeit macht man ziemlich häufig einen Unterschied zwischen den „wirklichen,<br />

ernsten, wahren“ Wünschen, Bestrebungen und Bedürfnissen des Menschen und den „angeblichen,<br />

phantastischen, müßigen, die keine wirkliche Bedeutung in den Augen des Menschen<br />

selbst haben, der sie zum Ausdruck bringt oder sich einbildet, sie zu haben“. Als Beispiel<br />

eines Menschen, bei dem solche eingebildeten, phantastischen, ihm in Wirklichkeit ganz<br />

fremden Bestrebungen stark entwickelt sind, läßt sich die ausgezeichnete Gestalt Gruschnizkis<br />

in Lermontows „Held unserer Zeit“ anführen. Dieser unterhaltsame Gruschnizki gibt sich<br />

alle erdenkliche Mühe, etwas zu fühlen, was er gar nicht fühlt, und etwas zu erreichen, was er<br />

3 Mit „hausbackne Denker“ sind wahrscheinlich S. Schewyrjow, A. Chomjakow und K. Aksakow gemeint. Bei<br />

dem „Ausdruck aus dem Lied von Igors Heerfahrt‘“ dachte Tschernyschewski an die Anfangszeilen dieser altrussischen<br />

epischen Dichtung, die lauten: „Der alte Bojan, wenn ein Lied er singen wollte, dehnte sich in Gedanken<br />

wie ein Baum.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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