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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 236 8. Das Erhabene (und sein Moment: das Tragische) ist nicht eine Abart des Schönen; die Ideen des Erhabenen und des Schönen sind voneinander völlig verschieden; zwischen ihnen besteht weder eine innere Verbundenheit noch eine innere Gegensätzlichkeit. 9. Die Wirklichkeit ist nicht nur lebendiger, sondern auch vollkommener als die Phantasie. Die Bilder der Phantasie sind nur blasse und fast immer nicht geglückte Abwandlungen der Wirklichkeit. [492] 10. Das Schöne in der objektiven Wirklichkeit ist durchaus schön. 11. Das Schöne in der objektiven Wirklichkeit befriedigt den Menschen ganz und gar. 12. Die Kunst entsteht durchaus nicht aus dem Bedürfnis des Menschen, die Mängel des Schönen in der Wirklichkeit zu kompensieren. 13. Die Werke der Kunst bleiben hinter dem Schönen in der Wirklichkeit nicht nur deshalb zurück, weil der Eindruck, den die Wirklichkeit hinterläßt, lebendiger ist als der Eindruck, den die Kunstwerke ausüben: die Werke der Kunst bleiben hinter dem Schönen (genau so wie hinter dem Erhabenen, Tragischen und Komischen) in der Wirklichkeit auch in ästhetischer Hinsicht zurück. 14. Das Gebiet der Kunst beschränkt sich nicht auf das Gebiet des Schönen im ästhetischen Sinne des Wortes, des seinem lebendigen Wesen und nicht nur seiner vollkommenen Form nach Schönen: die Kunst bildet alles nach, was es für den Menschen Interessantes im Leben gibt. 15. Die Vollendung der Form (die Einheit von Idee und Form) ist kein Charakterzug der Kunst im ästhetischen Sinne des Wortes (der schönen Künste); das Schöne als Einheit von Idee und Bild oder als volle Verwirklichung der Idee ist das Ziel des Strebens der Kunst im weitesten Sinne des Wortes oder des „Könnens“, das Ziel jeder praktischen Tätigkeit des Menschen. 16. Das Bedürfnis, welches die Kunst im ästhetischen Sinne des Wortes (die schönen Künste) hervorbringt, ist das gleiche, das mit aller Klarheit in der Porträtmalerei zum Ausdruck kommt. Das Porträt wird nicht deshalb gemalt, weil die Züge des lebendigen Menschen uns nicht befriedigen, sondern um unserer Erinnerung an den lebenden Menschen zu Hilfe zu kommen, wenn er uns nicht vor Augen steht, und um denjenigen Menschen, die nicht Gelegenheit hatten, ihn zu sehen, eine gewisse Vorstellung von ihm zu geben. Die Kunst gemahnt uns mit ihren Nachbildungen nur an das, was im Leben für uns interessant ist, und bemüht sich, uns bis zu einem gewissen Grade mit [493] jenen interessanten Seiten des Lebens bekannt zu machen, die in der Wirklichkeit zu beobachten oder auf uns einwirken zu lassen, wir keine Gelegenheit hatten. 17. Die Nachbildung des Lebens ist das allgemeine charakteristische Merkmal der Kunst, das ihr Wesen ausmacht; häufig haben die Kunstwerke auch noch eine andere Bestimmung – die Erklärung des Lebens; oft haben sie auch die Bestimmung, ein Urteil über die Erscheinungen des Lebens zu fällen. 102 [494] 102 Im Manuskript ist ein weiterer Punkt gestrichen: „18. Der Gesang ist Kunst nur in einigen Fällen, wenn unter Kunst die Nachbildung des Lebens verstanden wird; seiner ursprünglichen Bestimmung nach ist er der natürliche Erguß einer lang anhaltenden Empfindung, und in diesem Falle ist er nur in dem Sinne Kunst, daß man, um wirklich kunstvoll zu singen, singen lernen muß, also Kunst nur in technischer Hinsicht.“ Damit bricht das Manuskript ab. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 237 DIE ÄSTHETISCHEN BEZIEHUNGEN DER KUNST ZUR WIRKLICHKEIT VON N. TSCHERNYSCHEWSKI. PETERSBURG 1855‘ 1 (Autorezension) Das System der Auffassungen, aus denen sich die bis vor kurzem herrschenden ästhetischen Ideen entwickelt haben, hat jetzt einer anderen Betrachtungsweise der Welt und des menschlichen Lebens Platz gemacht, die vielleicht weniger reizvoll für die Phantasie ist, aber besser zu den Schlußfolgerungen paßt 2 , die sich bei dem heutigen Stand der Naturforschung, der Geschichte und der moralischen Wissenschaften aus einer strengen, unvoreingenommenen Tatsachenforschung ergeben. Der Autor des von uns zu besprechenden Buches ist der Meinung, daß angesichts der ausgesprochenen Abhängigkeit der Ästhetik von unseren allgemeinen Auffassungen von der Natur und vom Menschen mit der Wandlung dieser Auffassungen auch die Theorie der Kunst eine Umgestaltung erfahren muß. Wir wollen nicht entscheiden, wieweit die eigene Theorie richtig ist, die Herr Tschernyschewski an Stelle der früheren Theorie vorschlägt – das wird die Zeit entscheiden, und Herr Tschernyschewski selbst gibt zu, daß „seine Darstellung Lücken, Mängel und Einseitigkeiten enthalten kann“; man muß aber wirklich anerkennen, daß die herrschenden ästhetischen Überzeugungen, seitdem die moderne Analyse ihnen die metaphysischen Grundlagen entzogen hat, auf denen sie am Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts so selbstsicher emporwuchsen, sich neue Stützen suchen müssen oder neuen Auffassungen Platz machen müssen, falls sie sich nicht durch strenge Analyse von neuem bestätigen [495] lassen. Der Autor ist positiv davon überzeugt, daß die Kunsttheorie eine neue Gestalt bekommen muß – wir sind bereit anzunehmen, daß das wirklich geschehen muß, denn ein Einzelteil des Gesamtgebäudes der Philosophie kann schwerlich unangetastet bleiben, wenn das ganze Gebäude umgebaut wird. In welchem Geiste muß nun die Kunsttheorie sich ändern „Achtung vor dem wirklichen Leben, Mißtrauen gegenüber aprioristischen Hypothesen, mögen sie auch der Phantasie angenehm sein – 1 Tschernyschewskis Autorezension der Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ erschien erstmalig im „Sowremennik“, Jahrgang 1855, Heft 51, Nr. 6, mit der Unterschrift N. P. Als Tschernyschewski im Jahre 1855 seine Dissertation veröffentlichte, die die Grundlagen der idealistischen Ästhetik völlig über den Haufen warf, war er sich völlig klar darüber, daß seine Ansichten bei der damaligen Kritik keine richtige Wertschätzung finden und nicht auf ausführliche Behandlung rechnen konnten. Dieser Umstand veranlaßte ihn, bald nach Erscheinen des Buches selber eine kritische Betrachtung der „Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ zu schreiben, um in Gestalt einer „Kritik“ dem Leser klarzumachen, was er selbst in seiner Dissertation nicht vollständig genug hatte darlegen können. Bei der Abfassung dieses autokritischen Aufsatzes über die „Ästhetischen Beziehungen“ für den „Sowremennik“ fühlte Tschernyschewski sich weniger gebunden als bei der Vorbereitung der Universitätsdissertation selber. In einem Zeitschriftenartikel konnte er die Verbindung seiner Ästhetik mit dem allgemeinen System seiner materialistischen philosophischen Anschauungen ausführlicher und klarer herausarbeiten, während er sie in der Dissertation sorgfältig verschleiern mußte. Grade unter dem Vorwand, daß in der Dissertation „Herr Tschernyschewski zu schnell über die Punkte hinwegeilt, in denen die Ästhetik sich mit den allgemeinen Auffassungen von Natur und Leben berührt“, bemühte sich der Autor der Rezension, durch das Pseudonym N. P. gedeckt, diese äußerst wichtige grundsätzliche Frage ausführlicher zu beleuchten. Der geschickt formulierte Vorwurf der „Unvollständigkeit“, den Tschernyschewski hier scheinbar gegen sich selber richtet, trifft natürlich voll und ganz nicht den Verfasser der Dissertation, sondern die strenge Zensur jener Zeit und die geistige und politische Gesamtlage der fünfziger Jahre. In der vorliegenden Ausgabe wird der Inhalt nach dem Text des „Sowremennik“ wiedergegeben. Die wesentlichsten Abweichungen des Zeitschriftentextes vom Manuskript sind in den Anmerkungen angegeben. 2 Nach „Schlußfolgerungen paßt“ sind im Manuskript die Worte gestrichen: „zu denen heutzutage die strengen Erforscher der Erscheinungen der Natur und der historischen Geschicke des Menschengeschlechts kommen, und die vorliegen“. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 237<br />

DIE ÄSTHETISCHEN BEZIEHUNGEN DER KUNST ZUR WIRKLICHKEIT<br />

VON N. TSCHERNYSCHEWSKI.<br />

PETERSBURG 1855‘ 1<br />

(Autorezension)<br />

Das System der Auffassungen, aus denen sich die bis vor kurzem herrschenden ästhetischen<br />

Ideen entwickelt haben, hat jetzt einer anderen Betrachtungsweise der Welt und des menschlichen<br />

Lebens Platz gemacht, die vielleicht weniger reizvoll für die Phantasie ist, aber besser<br />

zu den Schlußfolgerungen paßt 2 , die sich bei dem heutigen Stand der Naturforschung, der<br />

Geschichte und der moralischen Wissenschaften aus einer strengen, unvoreingenommenen<br />

Tatsachenforschung ergeben. Der Autor des von uns zu besprechenden Buches ist der Meinung,<br />

daß angesichts der ausgesprochenen Abhängigkeit der Ästhetik von unseren allgemeinen<br />

Auffassungen von der Natur und vom Menschen mit der Wandlung dieser Auffassungen<br />

auch die Theorie der Kunst eine Umgestaltung erfahren muß. Wir wollen nicht entscheiden,<br />

wieweit die eigene Theorie richtig ist, die Herr Tschernyschewski an Stelle der früheren<br />

Theorie vorschlägt – das wird die Zeit entscheiden, und Herr Tschernyschewski selbst gibt<br />

zu, daß „seine Darstellung Lücken, Mängel und Einseitigkeiten enthalten kann“; man muß<br />

aber wirklich anerkennen, daß die herrschenden ästhetischen Überzeugungen, seitdem die<br />

moderne Analyse ihnen die metaphysischen Grundlagen entzogen hat, auf denen sie am Ende<br />

des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts so selbstsicher emporwuchsen, sich neue<br />

Stützen suchen müssen oder neuen Auffassungen Platz machen müssen, falls sie sich nicht<br />

durch strenge Analyse von neuem bestätigen [495] lassen. Der Autor ist positiv davon überzeugt,<br />

daß die Kunsttheorie eine neue Gestalt bekommen muß – wir sind bereit anzunehmen,<br />

daß das wirklich geschehen muß, denn ein Einzelteil des Gesamtgebäudes der Philosophie<br />

kann schwerlich unangetastet bleiben, wenn das ganze Gebäude umgebaut wird. In welchem<br />

Geiste muß nun die Kunsttheorie sich ändern „Achtung vor dem wirklichen Leben, Mißtrauen<br />

gegenüber aprioristischen Hypothesen, mögen sie auch der Phantasie angenehm sein –<br />

1 Tschernyschewskis Autorezension der Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“<br />

erschien erstmalig im „Sowremennik“, Jahrgang 1855, Heft 51, Nr. 6, mit der Unterschrift N. P.<br />

Als Tschernyschewski im Jahre 1855 seine Dissertation veröffentlichte, die die Grundlagen der idealistischen<br />

Ästhetik völlig über den Haufen warf, war er sich völlig klar darüber, daß seine Ansichten bei der damaligen<br />

Kritik keine richtige Wertschätzung finden und nicht auf ausführliche Behandlung rechnen konnten. Dieser<br />

Umstand veranlaßte ihn, bald nach Erscheinen des Buches selber eine kritische Betrachtung der „Ästhetischen<br />

Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ zu schreiben, um in Gestalt einer „Kritik“ dem Leser klarzumachen,<br />

was er selbst in seiner Dissertation nicht vollständig genug hatte darlegen können.<br />

Bei der Abfassung dieses autokritischen Aufsatzes über die „Ästhetischen Beziehungen“ für den „Sowremennik“<br />

fühlte Tschernyschewski sich weniger gebunden als bei der Vorbereitung der Universitätsdissertation selber.<br />

In einem Zeitschriftenartikel konnte er die Verbindung seiner Ästhetik mit dem allgemeinen System seiner<br />

materialistischen philosophischen Anschauungen ausführlicher und klarer herausarbeiten, während er sie in der<br />

Dissertation sorgfältig verschleiern mußte. Grade unter dem Vorwand, daß in der Dissertation „Herr Tschernyschewski<br />

zu schnell über die Punkte hinwegeilt, in denen die Ästhetik sich mit den allgemeinen Auffassungen<br />

von Natur und Leben berührt“, bemühte sich der Autor der Rezension, durch das Pseudonym N. P. gedeckt,<br />

diese äußerst wichtige grundsätzliche Frage ausführlicher zu beleuchten. Der geschickt formulierte Vorwurf der<br />

„Unvollständigkeit“, den Tschernyschewski hier scheinbar gegen sich selber richtet, trifft natürlich voll und<br />

ganz nicht den Verfasser der Dissertation, sondern die strenge Zensur jener Zeit und die geistige und politische<br />

Gesamtlage der fünfziger Jahre.<br />

In der vorliegenden Ausgabe wird der Inhalt nach dem Text des „Sowremennik“ wiedergegeben. Die wesentlichsten<br />

Abweichungen des Zeitschriftentextes vom Manuskript sind in den Anmerkungen angegeben.<br />

2 Nach „Schlußfolgerungen paßt“ sind im Manuskript die Worte gestrichen: „zu denen heutzutage die strengen<br />

Erforscher der Erscheinungen der Natur und der historischen Geschicke des Menschengeschlechts kommen, und<br />

die vorliegen“.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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