15.01.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 233<br />

Szenen entliehen werden, die dem Dichter im Gedächtnis geblieben sind (zum Beispiel die<br />

Führung des Dialogs, die Beschreibung der Örtlichkeit usw.); es ist richtig, daß die Ergänzung<br />

der Begebenheit mit diesen Einzelheiten sie noch nicht verändert, und der Unterschied<br />

zwischen der künstlerischen Erzählung und der in ihr wiedergegebenen Begebenheit beschränkt<br />

sich vorläufig einzig auf die Form. Doch damit ist die Einmischung der Phantasie<br />

noch nicht beendet. Die Begebenheit war in der Wirklichkeit mit anderen Begebenheiten<br />

verwoben, die mit ihr nur äußerlich ohne wesentlichen Zusammenhang in Verbindung standen;<br />

wenn wir die von uns gewählte Begebenheit von anderen Vorgängen und von unnötigen<br />

Episoden trennen, werden wir sehen, daß die Trennung neue Lücken in der Lebensfülle der<br />

Erzählung entstehen läßt; wieder muß der Dichter sie ausfüllen.<br />

Mehr noch: die Trennung nimmt nicht nur vielen Momenten der Begebenheit die Lebensfülle,<br />

sondern verändert häufig auch ihren Charakter – und die Begebenheit ist in der Erzählung<br />

schon nicht mehr das, was sie in Wirklichkeit war, oder der Dichter ist zur Erhaltung ihres<br />

Wesens gezwungen, viele Einzelheiten abzuändern, die in der Begebenheit wahren Sinn nur<br />

in ihrem wirklichen Milieu haben, das die isolierende Erzählung fortnimmt. 94 Wie wir sehen,<br />

wird das Tätigkeitsfeld der schöpferischen Kräfte des Dichters durch unsere Auffassung vom<br />

Wesen der Kunst sehr wenig beschränkt. 95 Doch der Gegenstand unserer Untersuchung ist<br />

[488] die Kunst als objektive Schöpfung und nicht die subjektive Tätigkeit des Dichters; es<br />

wäre darum unangebracht, sich auf eine Aufzählung der verschiedenen Beziehungen des<br />

Dichters zu dem Material seines Werkes einzulassen: wir haben eine dieser Beziehungen gezeigt,<br />

die der Selbständigkeit des Dichters am wenigsten Spielraum läßt und haben gefunden,<br />

daß bei unserer Betrachtungsweise des Wesens der Kunst der Künstler auch in dieser Situation<br />

nicht den wesentlichen Charakter verliert, der nicht speziell dem Dichter oder Künstler<br />

eigen ist, sondern dem Menschen überhaupt in seiner ganzen Tätigkeit – jenes wesentlichste<br />

Recht und jene Eigenschaft des Menschen, die objektive Wirklichkeit nur als sein Tätigkeitsfeld<br />

zu betrachten. 96 Noch weiter ist der Kreis für die Einmischung der kombinierenden<br />

Phantasie unter anderen Umständen: wenn zum Beispiel dem Dichter die Einzelheiten einer<br />

Begebenheit nicht völlig bekannt sind, wenn er von ihr (und den handelnden Personen) nur<br />

aus fremden Berichten Kenntnis hat, die immer einseitig, unzuverlässig und zum mindesten<br />

vom persönlichen Standpunkt des Dichters aus künstlerisch unvollkommen sind. 97 Aber die<br />

Notwendigkeit zu kombinieren und zu verändern, erwächst nicht daraus, daß das wirkliche<br />

Leben nicht jene Erscheinungen darbietet, die der Dichter oder der Künstler darstellen will,<br />

und zwar in viel vollständigerer Gestalt, als das Kunstwerk sie ihnen geben kann, sondern<br />

daraus, daß das Abbild des wirklichen Lebens nicht der gleichen Seinssphäre angehört wie<br />

das wirkliche Leben; der Unterschied entsteht dadurch, daß der Dichter nicht über dieselben<br />

Mittel verfügt wie das wirkliche Leben. Im Klavierauszug einer Oper geht der größere und<br />

94 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Mit einem Wort, die getreue Nachbildung des Lebens<br />

durch die Kunst ist kein einfaches Kopieren, besonders nicht in der Dichtung.“<br />

95 Dieser ganze Satz lautet im Manuskript folgendermaßen: „Indem wir immer wieder darauf hinweisen, daß der<br />

Dichter (oder der Künstler schlechthin) nichts aufzuweisen hat, was dem lebendigen Vorgang, den lebendigen<br />

Menschen, der lebendigen Natur an Lebensfülle und künstlerischer Vollendung gleichkäme, reden wir durchaus<br />

nicht davon, daß er ein gedankenloser Kopist einzelner Ereignisse ist, und was den Umkreis der Betätigung der<br />

schöpferischen Kräfte des Dichters angeht, so bedeutet unsere Auffassung vom Wesen der Kunst für ihn nicht<br />

die geringste Einengung.“<br />

96 Das Ende dieses Satzes ist von den Worten „als sein Tätigkeitsfeld“ an vom Autor für die dritte Auflage abgeändert<br />

worden. In der ersten Auflage lautete die Stelle: „als Material, nur als sein Tätigkeitsfeld zu betrachten<br />

und es sich‘ durch Gebrauch zu unterwerfen“.<br />

97 Nach den Worten „unvollkommen sind“ heißt es im Manuskript weiter: „(oder, indem wir den Künstler im<br />

allgemeinen in diese Lage versetzen: wenn der Künstler die darzustellende Wirklichkeit nicht vor Augen hat);<br />

noch größeren Spielraum für seine Phantasie braucht der Dichter, wenn er unter dem Einfluß einer bestimmten<br />

Tendenz, einer bestimmten Idee schafft; in solchen Fällen muß er noch mehr verändern und kombinieren“.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!