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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 232<br />

den Vorgängen des wirklichen Lebens ist alles wahr, gibt es keine Versehen, nicht jene einseitige<br />

Beschränktheit der Ansicht, unter der jedes Menschenwerk leidet – als Unterweisung, als<br />

Wissenschaft ist das Leben vollständiger, wahrer, ja künstlerischer als alle Schöpfungen der<br />

Gelehrten und Dichter. Aber das Leben denkt nicht daran, uns seine Erscheinungen zu erklären,<br />

es kümmert sich nicht um die Ableitung von Axiomen; in den Werken der Wissenschaft und der<br />

Kunst geschieht das; gewiß, die Schlußfolgerungen sind unvollständig, die Gedanken einseitig<br />

im Vergleich mit dem, was das Leben bietet; aber geniale Menschen haben die Schlußfolgerungen<br />

für uns gezogen, ohne ihre Hilfe wären unsere Schlußfolgerungen noch einseitiger, noch<br />

blasser. Die Wissenschaft und die Kunst (die Dichtung) sind ein „Handbuch“ für den, der das<br />

Leben zu studieren beginnt; ihre Bedeutung ist, auf das Quellenstudium vorzubereiten und später<br />

von Zeit zu Zeit als Nachschlagewerk zu dienen. Die Wissenschaft denkt nicht daran, das zu<br />

verbergen; auch die Dichter denken in ihren gelegentlichen Bemerkungen über das Wesen ihrer<br />

Werke nicht daran, es zu verbergen; einzig die Ästhetik fährt fort zu behaupten, die Kunst stehe<br />

über dem Leben und der Wirklichkeit.<br />

Alles Gesagte zusammenfassend, erhalten wir folgende Auffassung von der Kunst: Die wesentliche<br />

Bestimmung der Kunst ist die Nachbildung alles dessen, was für den Menschen im Leben<br />

interessant ist; sehr häufig tritt besonders in den Werken der Dichtung auch die Erklärung des<br />

Lebens, [486] die Beurteilung seiner Erscheinungen in den Vordergrund. Die Kunst verhält sich<br />

zum Leben genau so wie die Geschichte; der Unterschied besteht inhaltlich nur darin, daß die<br />

Geschichte vom Leben der Menschheit spricht, wobei sie es vor allem auf tatsächliche Wahrheit<br />

abgesehen hat, die Kunst dagegen Erzählungen vom Leben der Menschen liefert, in denen an<br />

Stelle der tatsächlichen Wahrheit die getreue Wiedergabe des psychologisch und moralisch<br />

Wahren tritt. Die erste Aufgabe der Geschichte ist, das Leben nachzubilden; die zweite – die<br />

nicht von allen Historikern erfüllt wird –‚ es zu erklären; der Historiker, der sich nicht um die<br />

zweite Aufgabe kümmert, bleibt einfacher Chronist, und sein Werk ist nur Material für den echten<br />

Historiker oder Lesestoff zur Befriedigung der Neugierde; wenn der Historiker an die zweite<br />

Aufgabe denkt, wird er zum Denker, und sein Werk erhält dadurch wissenschaftlichen Wert.<br />

Ganz das gleiche ist von der Kunst zu sagen. Die Geschichte erhebt nicht Anspruch darauf,<br />

mit dem wirklichen historischen Leben zu wetteifern, sie gibt zu, daß ihre Bilder blaß und<br />

unvollständig, mehr oder weniger unrichtig oder zum mindesten einseitig sind. Die Ästhetik<br />

muß zugeben, daß die Kunst ebenso und aus den gleichen Gründen nicht einmal daran denken<br />

darf, sich der Wirklichkeit gleichzustellen, geschweige denn, sie an Schönheit zu übertreffen.<br />

Wo aber bleibt bei einer derartigen Auffassung von der Kunst die schöpferische Phantasie<br />

Welche Rolle wird ihr eingeräumt Wir wollen nicht davon sprechen, woher in der Kunst das<br />

Recht der Phantasie stammt, das vom Dichter Gesehene und Gehörte zu modifizieren. Das<br />

erklärt sich aus dem Zweck der dichterischen Schöpfung, von der getreue Nachbildung einer<br />

bestimmten Seite des Lebens und nicht irgendeines Einzelfalls gefordert wird; wir wollen nur<br />

betrachten, worauf die Notwendigkeit einer Einmischung der Phantasie als der Fähigkeit beruht,<br />

das von den Sinnen Aufgenommene (mit Hilfe von Kombinationen) abzuändern und<br />

etwas formal Neues zu schaffen. Nehmen wir einmal an, der Dichter entnimmt dem eigenen<br />

Leben eine Begebenheit, die er vollständig kennt (das kommt nicht häufig vor; [487] gewöhnlich<br />

bleiben viele wesentlich wichtige Einzelheiten ihm wenig bekannt, und die Erzählung<br />

muß um des Zusammenhangs willen aus der Einbildungskraft ergänzt werden); nehmen<br />

wir weiter an, die gewählte Begebenheit ist in künstlerischer Hinsicht vollkommen abgeschlossen,<br />

so daß ihre einfache Erzählung ein völlig künstlerisches Werk wäre, d. h., nehmen<br />

wir einen Fall, wo die Einmischung der kombinierenden Phantasie am wenigsten notwendig<br />

erscheint. So gut das Gedächtnis sein mag, es ist nicht imstande, alle Einzelheiten und besonders<br />

jene festzuhalten, die für das Wesen der Sache unbedeutend sind; aber viele von ihnen<br />

sind für die künstlerische Vollständigkeit der Erzählung notwendig und müssen aus anderen<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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