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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 231<br />

essiert, kann er, bewußt oder unbewußt, nicht umhin, sein Urteil über sie zu fällen; der Dichter<br />

oder Künstler kann nicht aufhören, Mensch schlechthin zu sein, und kann deshalb, selbst wenn<br />

er möchte, nicht unterlassen, sein Urteil über die dargestellten Erscheinungen zu fällen; dieses<br />

Urteil kommt in seinem Werke zum Ausdruck – das ist eine neue Bestimmung der Kunstwerke,<br />

durch die die Kunst sich in die sittlichen Betätigungen des Menschen einreiht. Es gibt Menschen,<br />

deren Urteil über die Erscheinungen des Lebens fast nur darin besteht, daß sie für bestimmte<br />

[484] Seiten der Wirklichkeit empfänglich sind, andere dagegen meiden – das sind<br />

Menschen, deren geistige Tätigkeit schwach ist 89 ; wenn ein derartiger Mensch Dichter oder<br />

Künstler ist, haben seine Werke keine andere Bedeutung, als die Seiten des Lebens, die er liebt,<br />

nachzubilden. 90 Wenn aber ein Mensch, dessen geistige Tätigkeit bewegten Anteil an Fragen<br />

nimmt, die aus der Beobachtung des Lebens stammen, mit künstlerischer Begabung ausgestattet<br />

ist, wird in seinen Werken bewußt oder unbewußt das Bestreben zum Ausdruck kommen, ein<br />

lebendiges Urteil über die Erscheinungen zu fällen, die ihn interessieren (und seine Zeitgenossen<br />

auch, denn ein denkender Mensch kann nicht über nichtige Fragen nachdenken, die für niemanden<br />

außer ihm selbst interessant sind), in seinen Bildern oder Romanen, Dichtungen, Dramen<br />

werden Fragen aufgeworfen oder gelöst werden, die für den denkenden Menschen aus dem Leben<br />

erwachsen; seine Schöpfungen werden sozusagen Aufsätze über vom Leben gestellte Themen.<br />

91 Diese Tendenz kann sich in allen Künsten äußern (in der Malerei zum Beispiel kann man<br />

auf die Genrebilder und auf viele historische Gemälde hinweisen), doch vorwiegend entwickelt<br />

sie sich in der Dichtung, die die vollste Möglichkeit bietet, einen bestimmten Gedanken auszudrücken.<br />

Dann 92 wird der Künstler zum Denker, und das Kunstwerk erlangt, ohne die Sphäre<br />

der Kunst zu verlassen, wissenschaftliche Bedeutung. Es versteht sich von selbst, daß die Schöpfungen<br />

der Kunst in dieser Beziehung in der Wirklichkeit nicht ihresgleichen haben – jedoch nur<br />

in bezug auf die Form 93 was den Inhalt, die Fragen selbst angeht, die die Kunst aufwirft oder<br />

löst, so finden sie sich alle im wirklichen Leben, nur ohne Gewolltsein, ohne arrière-pensée * .<br />

Angenommen, in einem Kunstwerk wird der Gedanke entwickelt: „ein zeitweiliges Abweichen<br />

vom richtigen Wege richtet eine starke Natur nicht zugrunde“ oder „ein Extrem ruft das andere<br />

hervor“; oder es wird der Zerfall eines Menschen mit sich selbst dargestellt; oder, sagen wir, der<br />

Kampf der Leidenschaften mit dem höheren Streben (wir führen die [485] verschiedenen<br />

Grundideen an, die wir im „Faust“ finden) – gibt es etwa im wirklichen Leben nicht Fälle, wo<br />

sich die gleiche Situation herausbildet Wird aus der Beobachtung des Lebens etwa nicht hohe<br />

Weisheit abgeleitet Ist nicht die Wissenschaft eine einfache Abstrahierung des Lebens, die Reduzierung<br />

des Lebens auf Formeln Alles, was Wissenschaft und Kunst aussprechen, findet sich<br />

im Leben vor, und zwar in der vollständigsten, vollkommensten Form, mit allen lebendigen<br />

Einzelheiten, in denen gewöhnlich der wahre Sinn der Sache liegt und die von der Wissenschaft<br />

und der Kunst häufig nicht verstanden, noch häufiger von ihnen nicht erfaßt werden können; in<br />

89 Statt „schwach ist“ heißt es im Manuskript: „von Natur schwach und faul oder infolge ungünstiger Umstände<br />

wenig durch Studium und eigenes Nachdenken entwickelt ist. Sie können nur sagen: ‚Das mag ich und das mag<br />

ich nicht; das ist gut, das dagegen ist schlecht.‘“<br />

90 Im Manuskript heißt es nach diesen Worten: „Für seine unmotivierten Urteile ist in seinen Kunstwerken kein<br />

Raum; und selbst wenn er sie aussprechen wollte, wären sie völlig wertlos, weil sie nichts anderes wären als<br />

Gemeinplätze aus abgedroschenen Phrasen, die jeder längst kennt.“<br />

91 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript: „Mit einem Wort, es gibt Kunstwerke, in denen die den Menschen<br />

interessierenden Erscheinungen des Lebens einfach reproduziert sind, und es gibt andere Werke, in denen diese<br />

Bilder von einer bestimmten Idee erfüllt sind.“<br />

92 Dieser Satz beginnt im Manuskript mit den Worten: „In solchen Fällen gibt das Kunstwerk im strengen Sinne<br />

eine Erklärung des Lebens.“<br />

93 Statt „jedoch nur in bezug auf die Form“ heißt es im Manuskript: „In dieser Hinsicht sind sie selbständig, wie<br />

die Wissenschaft selbständig ist. Sie sind jedoch nur der Form nach selbständig; nur hinsichtlich der Form, hinsichtlich<br />

der Absichtlichkeit haben sie nicht ihresgleichen unter den Erscheinungen des wirklichen Lebens.“<br />

* Hintergedanke. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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