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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 230<br />
Wir haben jedoch weiter oben gesagt, daß die Kunst außer der Nachbildung noch eine andere<br />
Bestimmung hat – nämlich die Erklärung des Lebens; bis zu einem gewissen Grade können<br />
das alle Künste erreichen: häufig genügt es, die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu<br />
lenken (was die Kunst stets tut), um seine Bedeutung zu erklären oder einen das Leben besser<br />
verstehen zu lassen. In diesem Sinne unterscheidet sich die Kunst durch nichts von einem<br />
Bericht über den Gegenstand; ein Unterschied besteht insofern, als die Kunst ihr Ziel sicherer<br />
erreicht als ein einfacher Bericht, geschweige denn ein gelehrter Bericht: in der Form des<br />
Lebens lernen wir einen Gegenstand viel leichter kennen und beginnen uns viel schneller für<br />
ihn zu interessieren, als wenn man uns nur einen trockenen Hinweis auf den Gegenstand vorsetzt.<br />
Die Romane Coopers haben mehr als alle ethnographischen Berichte und alle Erörterungen<br />
darüber, wie wichtig es ist, die Lebensweise der Wilden zu studieren, dazu beigetragen,<br />
die Gesellschaft mit ihrem Leben bekannt zu machen. Aber wenn alle Künste auf neue<br />
interessante Gegenstände hinweisen können, weist die Dichtung mit Notwendigkeit stets<br />
scharf und klar auf die wesentlichen Züge des Gegenstandes hin. Die Malerei bildet den Gegenstand<br />
mit allen [483] Einzelheiten nach, die Bildhauerei ebenfalls; die Dichtung kann<br />
nicht allzu viele Einzelheiten umfassen, und indem sie aus ihren Bildern notgedrungen sehr<br />
vieles fortläßt, konzentriert sie unsere Aufmerksamkeit auf die zurückbehaltenen Züge. Darin<br />
sieht man einen Vorzug der dichterischen Bilder vor der Wirklichkeit; aber das gleiche tut<br />
auch jedes einzelne Wort mit seinem Gegenstand: im Worte (im Begriff) sind ebenfalls alle<br />
zufälligen Züge des Gegenstandes fortgelassen und einzig die wesentlichen beibehalten; vielleicht<br />
ist für den unerfahrenen Verstand das Wort klarer als der Gegenstand selbst; doch dieses<br />
Klarmachen ist nur eine Abschwächung. 84 Wir leugnen nicht den relativen Nutzen von<br />
Kompendien; aber wir glauben nicht, daß die für Kinder sehr nützliche „Russische Geschichte“<br />
von Tappe besser ist als die „Geschichte“ von Karamsin, der sie entnommen ist. 85 Ein<br />
Gegenstand oder ein Ereignis können in einem Dichtwerk leichter verständlich sein als in der<br />
Wirklichkeit selber; aber wir erkennen ihm nur den Wert eines lebendigen und klaren Hinweises<br />
auf die Wirklichkeit zu und keine selbständige Bedeutung, die mit der Fülle des wirklichen<br />
Lebens wetteifern könnte. Dazu ist nur noch zu sagen, daß jeder Prosabericht das gleiche<br />
tut wie die Dichtung. 86 Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Züge<br />
des Gegenstandes ist keine charakteristische Besonderheit der Dichtung, sondern eine allgemeine<br />
Eigenschaft der vernünftigen Rede. 87<br />
Die wesentliche Bestimmung der Kunst ist die Nachbildung dessen, was den Menschen in der<br />
Wirklichkeit interessiert. 88 Aber wenn der Mensch sich für die Erscheinungen des Lebens inter-<br />
84 Nach diesen Worten heißt es im Manuskript weiter: „Es gab eine Zeit, wo man die ‚gekürzten Ausgaben‘<br />
(Epitome) den Werken selber vorzog; warum sollen nicht auch wir die Dichtung dafür loben, daß sie unter Weglassung<br />
des Unwesentlichen in einem kurzen Abriß das Wesentliche darstellt, wenn die Nachkommen der großen<br />
Römer fanden, daß Justinus besser sei als Pompejus Trogus und daß es keinen besseren Geschichtsschreiber<br />
gäbe als Eutropius.“<br />
85 Bezieht sich auf die von August Tappe herausgegebene „Gekürzte Ausgabe der russischen Geschichte von N.<br />
M. Karamsin zum Gebrauch der Jugend und der Schüler dci russischen Sprache, mit Betonungsangabe und<br />
Erklärungen der wichtigsten Worte und Aussprüche in deutscher und französischer Sprache und mit Hinweisen<br />
auf die grammatischen Regeln“, 2 Bände, St. Petersburg 1819.<br />
86 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Worte geben immer nur die wesentlichen Einzelheiten<br />
wieder, denn ein ganzes Bild wird erschöpfend nur durch Malerei wiedergegeben und nicht durch Worte; der<br />
allmähliche Ablauf der Ereignisse in allen Einzelheiten könnte nur durch eine Reihe von Bildern, nicht aber<br />
durch eine geschichtliche Darstellung oder einen Roman wiedergegeben werden.“<br />
87 Dieser und der vorhergehende Satz einschließlich der in Anmerkung 86 wiedergegeben Einschaltung stehen<br />
im Manuskript anstatt des folgenden gestrichenem Textes: „Mit einem Wort, alle Vorzüge der Kunst vor der<br />
lebendigen Wirklichkeit können folgendermaßen definiert werden: ‚Schlechter unvergleichlich schlechter, aber<br />
billiger; verlangt weder soviel Zeit noch soviel Aufmerksamkeit, noch soviel Scharfsinn.‘“<br />
88 Nach „interessiert“ heißt es im Manuskript „die Nachbildung dessen, was seine Gedanken beschäftigt was<br />
ihm Freude oder Kummer bereitet“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013