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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 229<br />
keineswegs um Liebe geht. „Schreibt über das, worüber ihr schreiben wollt“ – das ist eine Regel,<br />
die einzuhalten die Dichter sich selten entschließen. 80 Liebe bei jeder passenden und unpassenden<br />
Gelegenheit – das ist der erste Schaden, der sich ‘für die [481] Kunst aus der Auffassung<br />
ergibt, daß „der Inhalt der Kunst das Schöne ist“; der zweite, eng mit ihm verbundene, ist die<br />
Künstelei. 81 In unserer Zeit macht man sich lustig über Racine und Madame Deshoulières; aber<br />
schwerlich ist die heutige Kunst, was Einfachheit und Naturgemäßheit der Triebfeder der Handlung<br />
und ungesuchte Natürlichkeit der Sprache betrifft, weit über sie hinausgekommen; die Einteilung<br />
der handelnden Personen in Helden und Bösewichte läßt sich ‘bis ‘heute auf die Kunstwerke<br />
der pathetischen Gattung anwenden; wie zusammenhängend, flüssig und beredt drücken<br />
sich diese Leute aus! Die Monologe und Dialoge in modernen Romanen bleiben nur wenig hinter<br />
den Monologen der pseudoklassischen Tragödien zurück: „In einem Kunstwerk muß alles in<br />
Schönheit getaucht sein“; zur Schönheit gehört notwendig die Entwicklung aller Details aus der<br />
Anlage des Sujets; und man setzt uns bei den Personen des Romans oder Dramas derart tief<br />
durchdachte Pläne des Handelns vor, wie Menschen im wirklichen Leben sie fast niemals aufstellen;<br />
tut aber einmal eine der eingeführten Personen einen instinktiven, unüberlegten Schritt,<br />
dann hält der Autor es für notwendig, ihn aus dem Wesen des Charakters dieser Person heraus<br />
zu rechtfertigen, die Kritiker aber sind auch weiter damit unzufrieden, daß die „Handlung nicht<br />
motiviert ist“ – als ob eine Handlung ihre Motive stets im individuellen Charakter hat und nicht<br />
auch in den Umständen und den allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Herzens. 82 „Die<br />
Schönheit verlangt Geschlossenheit der Charaktere“, und an Stelle lebendiger Menschen, die bei<br />
all ihrem Typischen verschiedenartig sind, liefert der Dramatiker oder der Romanschriftsteller<br />
unbewegliche Statuen. „Die Schönheit des Kunstwerkes erfordert abgeschlossene Dialoge“ –<br />
und an Stelle einer lebendigen Unterhaltung werden gekünstelte Dialoge vorgetragen, in denen<br />
der Sprechende, ob er will oder nicht, seinen Charakter ausspricht. 83 Die Folge von alledem ist<br />
eine Monotonie der Dichtwerke: die Menschen sind alle über einen Kamm geschoren, die Ereignisse<br />
entwickeln sich nach bekannten Rezepten, schon auf den ersten Seiten ist zu erkennen,<br />
was weiter kommt, und nicht nur, was kommt, [482] sondern auch wie es kommt. Wenden wir<br />
uns jedoch wieder der Frage nach der wesentlichen Bestimmung der Kunst zu.<br />
Die erste und allgemeine Bestimmung aller Kunstwerke ist, sagten wir, die Nachbildung der<br />
den Menschen interessierenden Erscheinungen des wirklichen Lebens. Unter „wirklichem<br />
Leben“ sind selbstverständlich nicht nur die Beziehungen des Menschen zu den Dingen und<br />
Geschöpfen der objektiven Welt zu verstehen, sondern auch sein Innenleben; zuweilen lebt<br />
der Mensch in Träumen – dann haben die Träume für ihn (bis zu einem gewissen Grade und<br />
für eine gewisse Zeit) die Bedeutung von etwas Objektivem; noch häufiger lebt der Mensch<br />
in der Welt seines Gefühls; diese Zustände werden, wenn sie ein gewisses Interesse erreichen,<br />
von der Kunst nachgebildet. Wir haben dies erwähnt, um zu zeigen, daß unsere Definition<br />
auch den phantastischen Inhalt der Kunst mit einbezieht.<br />
80 Hinter dem Wort „Dichter“ ist im Manuskript gestrichen: „die sich durch Liebesintrigen freiwillig die Hände<br />
binden und ihren Lesern verliebten Nebel vormachen“.<br />
81 Statt „Künstelei“ hieß es im Manuskript ursprünglich: „künstliche Sentimentalität, Geziertheit, die einen großen<br />
Teil der Kunstwerke der letzten zwei Jahrhunderte durchzieht“.<br />
82 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Und die Kritiker haben recht. Wenn der Dichter einen<br />
künstlich in sich geschlossenen Charakter geschaffen hat, besitzt er nicht mehr das Recht, ihn zu erweitern,<br />
indem er sagt: ‚Ich zeichne einen geizigen Egoisten, der jedoch gelegentlich gern durch Pracht aufwand blendet‘<br />
oder ‚Ich zeichne einen jungen Mann mit erhabenen Gefühlen und dem Verlangen nach leidenschaftlicher Liebe‘,<br />
– wenn der Dichter das sagt, führt er bereits alle Triebfedern auf, die das Handeln des betreffenden Menschen<br />
bestimmen, und würde inkonsequent handeln wenn er ihm Gelegenheit gäbe, in seinem Herzen noch<br />
irgendwelche neue Seiten zu offenbaren.“<br />
83 Nach den Worten „seinen Charakter ausspricht“ hieß es im Manuskript ursprünglich: „während sich in Wirklichkeit<br />
im Gespräch gewöhnlich nur die Außenseite eines Menschen, seine Manier zu sprechen offenbart nicht<br />
aber sein Herz“.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013