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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 228<br />
übermäßiges Bemühen um die plastische Herausarbeitung der [479] Einzelheiten kann der Einheitlichkeit<br />
des Ganzen schaden, indem es die Teile zu deutlich hervortreten läßt, und lenkt, was<br />
noch wichtiger ist, die Aufmerksamkeit des Künstlers von den wesentlichsten Seiten seines<br />
Werkes ab.) Die Schönheit der Form, die in der Einheit von Idee und Bild besteht, ist ein allgemeines<br />
Attribut nicht nur der Kunst (im ästhetischen Sinne des Wortes) ‚ sondern auch alles<br />
menschlichen Tuns, und völlig unterschieden von der Idee des Schönen als Objekt der Kunst, als<br />
Gegenstand unserer freudigen Liebe in der wirklichen Welt. 79 Die Verwechslung der Schönheit<br />
der Form, als einer notwendigen Eigenschaft des Kunstwerks, und des Schönen, als eines der<br />
vielen Objekte der Kunst, war eine der Ursachen betrüblicher Mißbräuche in der Kunst. „Der<br />
Gegenstand der Kunst ist das Schöne“, das Schöne um jeden Preis, einen anderen Sinn hat die<br />
Kunst nicht. Was ist denn das Allerschönste auf der Welt Im Menschenleben Schönheit und<br />
Liebe; in der Natur läßt sich schwer entscheiden, was eigentlich – so viel Schönheit gibt es in<br />
ihr. Und so muß man die Dichtung bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten mit<br />
Naturbeschreibungen vollstopfen: je mehr, desto schöner wird unser Werk. Aber Schönheit und<br />
Liebe sind noch schöner –und da steht auch schon (meistens völlig unangebracht) im Vordergrund<br />
des Dramas, der Novelle, des Romans usw. die Liebe. Deplacierte, weitschweifige Auslassungen<br />
über die Schönheit der Natur sind einem Kunstwerk noch nicht einmal so schädlich:<br />
man kann sie auslassen, denn sie sind nur äußerlich angeklebt; aber was soll man mit der Liebesintrige<br />
machen Man kann sie nicht unbeachtet lassen, denn an dieses Fundament ist alles mit<br />
gordischen Knoten angeknüpft, ohne sie verliert alles Zusammenhang und Sinn. Wir wollen erst<br />
gar nicht davon sprechen, daß das leidende oder triumphierende Liebespaar Tausenden von<br />
Werken eine schreckliche Monotonie verleiht; wir wollen auch nicht davon sprechen, daß diese<br />
Liebesabenteuer und Schönheitsbeschreibungen wesentlichen Details den Platz wegnehmen; das<br />
ist noch das wenigste: die Gewohnheit, Liebe, Liebe und immer wieder Liebe darzustellen,<br />
bringt die Dichter dazu, zu vergessen, daß das Leben auch andere [480] Seiten hat, die den Menschen<br />
im allgemeinen viel mehr interessieren; die ganze Dichtung und das ganze in ihr dargestellte<br />
Leben nimmt eine sentimentale rosarote Färbung an; an Stelle einer ernsthaften Darstellung<br />
des menschlichen Lebens setzen sehr viele Kunstwerke uns eine allzu jugendliche (um<br />
nicht ein präziseres Epitheton zu gebrauchen) Anschauung vom Leben vor, und der Dichter tritt<br />
gewöhnlich als junger, sehr junger Mann auf, dessen Erzählungen nur für Leute des gleichen<br />
moralischen oder physiologischen Alters interessant sind. Das setzt schließlich die Kunst in den<br />
Augen derer herab, die die glückliche Zeit der ersten Jugend bereits hinter sich haben; die Kunst<br />
erscheint ihnen als bloßer Zeitvertreib, allzu süßlich für ausgewachsene Menschen und nicht<br />
ganz ungefährlich für die Jugend. Wir denken gar nicht daran, dem Dichter die Beschreibung<br />
der Liebe zu verbieten; aber die Ästhetik muß fordern, daß der Dichter die Liebe nur dann schildert,<br />
wenn er eben sie schildern will: wozu die Liebe in den Vordergrund stellen, wenn es sich<br />
im Grunde genommen durchaus nicht um sie, sondern um andere Seiten des Lebens handelt<br />
Warum steht zum Beispiel die Liebe im Vordergrund bei Romanen, die eigentlich die Lebensweise<br />
eines bestimmten Volkes in einer gegebenen Epoche oder die Lebensweise bestimmter<br />
Klassen des Volkes darstellen Auch in der Geschichte, in der Psychologie, in ethnographischen<br />
Werken ist ebenfalls von der Liebe die Rede – doch nur dort, wo es am Platze ist, genau so wie<br />
von allem übrigen. Die historischen Romane Walter Scotts sind auf Liebesgeschichten aufgebaut<br />
– wozu das War die Liebe etwa die Hauptbeschäftigung der Gesellschaft und die Haupttriebkraft<br />
der Ereignisse in der von ihm dargestellten Epoche „Aber die Romane Walter Scotts<br />
sind veraltet“; ganz genau bei passender und unpassender Gelegenheit mit Liebe vollgestopft<br />
sind Dickens Romane und George Sands Romane aus dem Dorfleben, in denen es ebenfalls<br />
79 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript weiter: „Das Schöne als Objekt, als schönes Geschöpf oder schöner<br />
Gegenstand, ist nicht der einzige Inhalt der Kunst. Nicht nur das lebensvolle und lebensfrische Frohe interessiert<br />
den Menschen; und nicht das Schöne allein wird in der Kunst nachgebildet.“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013