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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 226<br />
[476] Gewöhnlich sagt man, der Inhalt der Kunst sei das Schöne; dadurch wird jedoch die<br />
Sphäre der Kunst zu sehr eingeengt. Selbst wenn man sich der Meinung anschließt, daß das<br />
Erhabene und das Komische Momente des Schönen sind, so fügt sich eine Menge von<br />
Kunstwerken ihrem Inhalt nach nicht in diese drei Rubriken: das Schöne, das Erhabene, das<br />
Komische ein. In der Malerei passen in diese Unterabteilungen nicht die Bilder des häuslichen<br />
Lebens, auf denen es nicht eine einzige schöne oder lächerliche Person gibt, die Darstellungen<br />
alter Männer und Frauen, die sich nicht durch besondere Altersschönheit auszeichnen<br />
usw. In der Musik ist die übliche Teilung noch schwerer durchzuführen: wenn wir Märsche,<br />
pathetische Stücke usw. der Rubrik des Erhabenen zurechnen; wenn wir Stücke, die Liebe<br />
oder Fröhlichkeit atmen, zur Rubrik des Schönen rechnen; wenn wir viele komische Lieder<br />
ausfindig machen, so bleibt uns noch eine riesige Anzahl von Liedern, die ihrem Inhalt nach<br />
nur gewaltsam einer dieser Gattungen zugerechnet werden können: wo soll man traurige Melodien<br />
hintun Etwa zum Erhabenen als Leiden Oder zum Schönen als sanfte Träumereien<br />
73 Von allen Künsten aber sträubt sich am heftigsten die Dichtung gegen die Einordnung<br />
ihres Inhalts in die engen Rubriken des Schönen und seiner Momente. Ihr Gebiet ist das ganze<br />
Gebiet des Lebens und der Natur 74 die Standpunkte, die der Dichter dem Leben in seinen<br />
vielfältigen Erscheinungen gegenüber einnimmt, sind ebenso vielfältig wie die Begriffe des<br />
Denkers von diesen verschiedenartigen Erscheinungen; der Denker aber findet in der Wirklichkeit<br />
sehr vieles außer dem Schönen, Erhabenen und Komischen. Nicht jeder Kummer<br />
geht bis zur Tragik; nicht jede Freude ist graziös oder komisch 75 . Daß der Inhalt der Dichtung<br />
sich nicht in den drei bekannten Kategorien erschöpft, sehen wir äußerlich daran, daß ihre<br />
Werke nicht mehr in den Rahmen der alten Unterteilungen passen. Daß die dramatische<br />
Dichtung nicht einzig das Tragische oder das Komische darstellt, geht daraus hervor, daß<br />
neben der Komödie und der Tragödie das Schauspiel erscheinen mußte. An Stelle des vorwiegend<br />
erhabenen Epos erschien der Roman mit seinen zahllosen Spielarten. Für die Mehrzahl<br />
[477] der heutigen lyrischen Gedichte findet man in den alten Einteilungen keine Überschrift,<br />
die den Charakter ihres Inhalts bezeichnen würde; hundert Rubriken würden nicht<br />
ausreichen, um so weniger zweifelhaft ist es, daß drei Rubriken nicht alles umfassen können<br />
(wir sprechen vom Charakter des Inhalts und nicht der Form, die immer schön sein muß).<br />
Diese Verwirrung ist am besten zu überwinden, wenn man sagt, daß die Sphäre der Kunst sich<br />
nicht einzig auf das Schöne und seine sogenannten Momente beschränkt, sondern alles umfaßt,<br />
was in der Wirklichkeit (in der Natur und im Leben) den Menschen, nicht als Wissenschaftler,<br />
sondern einfach als Menschen, interessiert; das Allgemeininteressante im Leben – das ist der<br />
Inhalt der Kunst. Das Schöne, das Tragische, das Komische sind nur die drei am meisten bestimmten<br />
Elemente unter Tausenden von Elementen, die das Leben interessant machen, und die<br />
aufzuzählen gleichbedeutend wäre mit der Aufzählung aller Gefühle, aller Bestrebungen, die das<br />
Herz des Menschen bewegen. Es dürfte wohl kaum nötig sein; in ausführlichere Beweise der<br />
von uns angenommenen Auffassung vom Inhalt der Kunst einzutreten; denn wenn in der Ästhetik<br />
auch gewöhnlich eine andere, engere Bestimmung des Inhalts gegeben wird, herrscht die von<br />
uns angenommene Anschauung tatsächlich, d. h. bei den Malern und den Dichtern selbst, und<br />
brauchen nicht erst zu erklären, daß wir unter ‚Nachbildung der Natur‘ durchaus nicht das verstehen, was man<br />
im 18. Jahrhundert unter ziemlich ähnlichen Worten verstanden hat.“<br />
73 Nach diesem Satz heißt es im Manuskri.pt weiter: „Man kann sagen, daß alle musikalischen Melodien der<br />
Form nach schön sein müssen, aber wir sprechen hier vom Inhalt und nicht von der Form (darüber, daß Formschönheit<br />
notwendig zu jedem Kunstwerk gehört, werden wir weiter unten sprechen und werden dann auch<br />
untersuchen, ob man sie als charakteristisches Merkmal der Kunst anzusehen hat).“<br />
74 Hinter dem Wort „Natur“ heißt es im Manuskript: „Die Wirklichkeit aber läßt sich nicht restlos in die Rubriken<br />
des Schönen, des Erhabenen und des Komischen einordnen.“<br />
75 Hinter dem Wort „komisch“ heißt es im Manuskript: „nicht jede Absicht und nicht jede Tat des Menschen ist<br />
entweder komisch oder erhaben“.<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013