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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 225<br />
sein Häufig empört man sich gegen das sogenannte „Daguerreotyp-Kopieren“ der Wirklichkeit<br />
– wäre es nicht besser, nur zu sagen, daß das Kopieren wie jede menschliche Tätigkeit<br />
verstanden sein will, und die Fähigkeit erfordert, die wesentlichen Züge von den unwesentlichen<br />
zu unterscheiden Man sagt gewöhnlich „tote Kopie“; aber der Mensch kann nicht getreu<br />
kopieren, wenn die Leblosigkeit des Mechanismus nicht durch lebendigen Sinn gelenkt<br />
wird; man kann nicht einmal ein getreues Faksimile von einer gewöhnlichen Handschrift herstellen,<br />
wenn man die Bedeutung der zu kopierenden Buchstaben nicht versteht.<br />
Bevor wir zur Definition des wesentlichen Inhalts der Kunst übergehen, die zu der von uns<br />
angenommenen Definition ihres formalen Prinzips hinzukommt, halten wir für nötig, etwas<br />
näher auf die Beziehung der Theorie der [475] „Nachbildung“ zur Theorie der „Nachahmung“<br />
hinzuweisen. Die von uns angenommene Betrachtungsweise der Kunst entspringt den<br />
Anschauungen der neuesten deutschen Ästhetiker und geht aus ihnen durch einen dialektischen<br />
Prozeß hervor, dessen Richtung durch die allgemeinen Ideen der modernen Wissenschaft<br />
bestimmt wird. Sie ist also unmittelbar mit zwei Systemen von Ideen verbunden –<br />
deren eines aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, das andere aus den letzten Jahrzehnten<br />
stammt. Jede andere Beziehung ist einfache Ähnlichkeit, die keinen genetischen Einfluß hat.<br />
Doch wenn die Auffassungen der antiken und alten Denker beim gegenwärtigen Entwicklungsstand<br />
der Wissenschaft keinen Einfluß auf die moderne Denkweise haben können, muß<br />
man doch auch sehen, daß in vielen Fällen die modernen Auffassungen Ähnlichkeit mit den<br />
Auffassungen früherer Jahrhunderte haben. Besonders häufig ähneln sie den Auffassungen<br />
der griechischen Denker. So ist es auch im vorliegenden Falle. Die von uns angenommene<br />
Bestimmung des formalen Prinzips der Kunst ähnelt der Betrachtungsweise, die in der griechischen<br />
Welt herrschte, die wir bei Plato und Aristoteles finden und die, aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach, bei Demokrit ausgesprochen war. Ihr μίμησις entspricht unserm Terminus<br />
„Nachbildung“ * . Und wenn später dieses Wort als „Nachahmung“ aufgefaßt wurde, so war<br />
dies keine glückliche Übersetzung, denn sie schränkte den Kreis der Begriffe ein und erweckte<br />
den Gedanken an eine Imitation der äußeren Form und nicht an eine Wiedergabe des inneren<br />
Gehalts. 70 Die pseudoklassische Theorie betrachtete die Kunst tatsächlich als eine Imitation<br />
der Wirklichkeit mit dem Ziel, die Sinne zu täuschen, aber das war ein Mißgriff, wie er<br />
nur in Epochen von verdorbenem Geschmack vorkommt. 71<br />
Jetzt müssen wir die weiter oben von uns aufgestellte Definition der Kunst ergänzen und von<br />
der Untersuchung des formalen Prinzips der Kunst zur Definition ihres Inhalts übergehen. 72<br />
* Näheres hierüber in Tschernyschewskis Aufsatz: Aristoteles, „Über die Dichtkunst“, S. 546 des von. Buches.<br />
Die Red.<br />
70 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript: „Der beste Beweis dafür, daß die griechische Betrachtungsweise. in<br />
der späteren sogenannten Theorie der Nachahmung der Natur entstellt worden ist, liegt in der von uns oben angeführten<br />
Kritik dieser Theorie. Es ist offensichtlich, daß nach der Auffassung des Autors dieser Kritik die Kunst<br />
Wenn sie sich von der Theorie der Nachahmung leiten läßt, darauf ausgeht, durch äußere Ähnlichkeit zu täuschen<br />
und den Betrachter dahin zu bringen, daß er die leblose Imitation für den lebendigen Gegenstand, das Porträt für<br />
einen wirklichen Menschen, die Theaterkulissen für wirkliches Meer oder wirklichen Eichenwald nimmt. Andernfalls<br />
hätte der Kritiker nicht gesagt: indem die Kunst die Natur nachahmt, gibt sie, infolge der Beschränktheit ihrer<br />
Mittel, nur Täuschung statt Wahrheit, und statt eines lebendigen Wesens nur eine tote Maske.“<br />
71 Dieser Satz lautete nach den Worten „die Sinne zu täuschen“ ursprünglich folgendermaßen: „Man kann uns<br />
nicht vorwerfen, daß wir die ganze Kunst dieses Mißbrauchs anklagen, der nur den Epochen verdorbenen Geschmacks<br />
eigen ist. In unserer Analyse der Mängel der Kunst haben wir nicht diesen Standpunkt bezogen, von<br />
dem aus der Autor der zitierten Zeilen die Regeln betrachtet, die eine entstellte Theorie der Kunst vorschreibt,<br />
gegen deren falsche Tendenzen er ganz mit Recht auftritt. Die Kunst im allgemeinen der Imitation zu beschuldigen,<br />
wäre ungerechtfertigt.“<br />
72 Dieser Satz fehlt im Manuskript. Dort ist die folgende Stelle gestrichen: „Wir sehen also als formales Prinzip<br />
der Kunst die Nachbildung der Wirklichkeit an.“ Dazu gehört die ebenfalls durchstrichene Anmerkung: „Wir<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013