Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
von max.stirner.archiv.leipzig.de Mehr von diesem Publisher
15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 224 wenn 69 vorausgesetzt wird, die Kunst wolle mit der Wirklichkeit wetteifern und nicht einfach ihr Surrogat sein. Aber wir behaupten ja gerade, daß die Kunst keinen Vergleich mit der lebendigen Wirklichkeit aushält und durchaus nicht jene Lebendigkeit besitzt wie die reale Wirklichkeit; das halten wir für unzweifelhaft. Der Ausdruck: „Kunst ist Nachbildung der Wirklichkeit“, muß also, um eine allseitige Definition zu sein, ergänzt werden; ohne in dieser Form den ganzen Inhalt des zu bestimmenden Begriffs zu erschöpfen, ist die Bestimmung dennoch richtig, und irgendwelche Einwände gegen sie können einstweilen nur auf der stillschweigenden Forderung beruhen, die Kunst müsse definitionsgemäß der [473] Wirklichkeit überlegen, müsse vollkommener sein als sie; die objektive Unhaltbarkeit dieser Annahme haben wir zu beweisen versucht und haben dann ihre subjektiven Voraussetzungen aufgedeckt. Sehen wir zu, ob die weiteren Einwände gegen die Theorie der Nachahmung sich auf unsere Anschauung anwenden lassen. Bei der Unmöglichkeit, in der Nachahmung der Natur vollen Erfolg zu erzielen, bliebe nur das selbstgenügsame Vergnügen an dem relativen Erfolg dieses Kunststückes; aber auch diese Freude wird desto frostiger, je ähnlicher das Nachbild äußerlich dem natürlichen Vorbild wird, und verkehrt sich sogar in Überdruß oder Widerwillen. Es gibt Porträts, welche dem Vorbild, wie man sagt, bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind. Die vollkommene Nachahmung des Schlags der Nachtigall wird uns sofort langweilig und widerlich, sobald wir entdecken, daß es nicht tatsächlich der Schlag der Nachtigall ist, sondern seine Nachahmung durch irgendeinen Kunststückemacher, der Nachtigalltriller ausführt; denn vom Menschen können wir noch ganz anderes erwarten als solch eine Musik. Derartige Geschicklichkeit im kunstreichen Nachahmen der Natur ist dem Kunststück jenes gleichzuachten, der ohne zu fehlen Linsen durch eine Öffnung warf, die nicht größer war als ein Linsenkorn, und den Alexander der Große mit einem Scheffel Linsen beschenkte. * Diese Bemerkungen sind durchaus richtig; aber sie beziehen sich auf das nutz- und sinnlose Kopieren eines Inhalts, der keinerlei Aufmerksamkeit verdient, oder auf das Abzeichnen einer leeren Äußerlichkeit, die jedes Inhalts bar ist. (Auf wieviel hochgepriesene Kunstwerke paßt dieser bittere, aber verdiente Spott!) Einzig ein Inhalt, der die Aufmerksamkeit des denkenden Menschen verdient, kann die Kunst vor dem Vorwurf bewahren, sie sei nichts weiter als ein leerer Zeitvertreib, was sie ja tatsächlich auch sehr häufig ist; die künstlerische Form wird kein Kunstwerk vor Geringschätzung oder vor einem mitleidigen Lächeln retten, wenn es nicht durch die Bedeutsamkeit seiner Idee Antwort auf die Frage zu geben imstande ist: „Hat es sich wirklich gelohnt, sich damit Mühe zu geben“ Das Unnütze hat kein Recht auf Achtung. „Der Mensch ist sich selbst [474] Zweck“; aber was der Mensch tut, muß seinen Zweck in den Bedürfnissen des Menschen haben und nicht in sich selbst. Deshalb erweckt auch die unnütze Nachahmung um so mehr Widerwillen, je vollkommener die äußere Ähnlichkeit ist. „Wozu wurde soviel Zeit und Arbeit vergeudet“ denken wir, wenn wir sie betrachten. „Und wie schade, daß so ein nichtssagender Inhalt mit einer so vollkommenen Technik vereinbar ist!“ Die Langeweile und der Widerwillen, die der Kunststückemacher hervorruft, wenn er den Schlag der Nachtigall nachahmt, werden durch die Bemerkungen erklärt, mit denen die Kritik seine Erwähnung begleitet: kläglich ist der Mensch, der nicht begreift, daß er ein menschliches Lied singen, nicht aber Triller ausführen soll, die nur im Gesang der Nachtigall Sinn haben und ihn verlieren, wenn ein Mensch sie wiederholt. Was die Porträts anlangt, die bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind, so muß man das so verstehen: jede Kopie muß, um getreu zu sein, die wesentlichen Züge des Originals wiedergeben; ein Porträt, das nicht die wichtigsten, ausdrucksvollsten Züge des Gesichtes wiedergibt, ist nicht getreu; wenn dabei aber die kleinlichen Details des Gesichts deutlich wiedergegeben sind, wirkt das Gesicht auf dem Porträt entstellt, sinnlos, leblos – wie sollte es da nicht ekelhaft 69 Hinter „wenn“ hieß es im Manuskript ursprünglich: „die Kunst über die Natur und das wirkliche Leben gestellt werden, wenn...“ * Der vorstehende Abschnitt ist eine freie Wiedergabe der Ausführungen Hegels in den „Vorlesungen über die Ästhetik“, Sämtl. Werke, Bd. XII, Stuttgart 1927, S. 73/74. Die Red. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 225 sein Häufig empört man sich gegen das sogenannte „Daguerreotyp-Kopieren“ der Wirklichkeit – wäre es nicht besser, nur zu sagen, daß das Kopieren wie jede menschliche Tätigkeit verstanden sein will, und die Fähigkeit erfordert, die wesentlichen Züge von den unwesentlichen zu unterscheiden Man sagt gewöhnlich „tote Kopie“; aber der Mensch kann nicht getreu kopieren, wenn die Leblosigkeit des Mechanismus nicht durch lebendigen Sinn gelenkt wird; man kann nicht einmal ein getreues Faksimile von einer gewöhnlichen Handschrift herstellen, wenn man die Bedeutung der zu kopierenden Buchstaben nicht versteht. Bevor wir zur Definition des wesentlichen Inhalts der Kunst übergehen, die zu der von uns angenommenen Definition ihres formalen Prinzips hinzukommt, halten wir für nötig, etwas näher auf die Beziehung der Theorie der [475] „Nachbildung“ zur Theorie der „Nachahmung“ hinzuweisen. Die von uns angenommene Betrachtungsweise der Kunst entspringt den Anschauungen der neuesten deutschen Ästhetiker und geht aus ihnen durch einen dialektischen Prozeß hervor, dessen Richtung durch die allgemeinen Ideen der modernen Wissenschaft bestimmt wird. Sie ist also unmittelbar mit zwei Systemen von Ideen verbunden – deren eines aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, das andere aus den letzten Jahrzehnten stammt. Jede andere Beziehung ist einfache Ähnlichkeit, die keinen genetischen Einfluß hat. Doch wenn die Auffassungen der antiken und alten Denker beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Wissenschaft keinen Einfluß auf die moderne Denkweise haben können, muß man doch auch sehen, daß in vielen Fällen die modernen Auffassungen Ähnlichkeit mit den Auffassungen früherer Jahrhunderte haben. Besonders häufig ähneln sie den Auffassungen der griechischen Denker. So ist es auch im vorliegenden Falle. Die von uns angenommene Bestimmung des formalen Prinzips der Kunst ähnelt der Betrachtungsweise, die in der griechischen Welt herrschte, die wir bei Plato und Aristoteles finden und die, aller Wahrscheinlichkeit nach, bei Demokrit ausgesprochen war. Ihr μίμησις entspricht unserm Terminus „Nachbildung“ * . Und wenn später dieses Wort als „Nachahmung“ aufgefaßt wurde, so war dies keine glückliche Übersetzung, denn sie schränkte den Kreis der Begriffe ein und erweckte den Gedanken an eine Imitation der äußeren Form und nicht an eine Wiedergabe des inneren Gehalts. 70 Die pseudoklassische Theorie betrachtete die Kunst tatsächlich als eine Imitation der Wirklichkeit mit dem Ziel, die Sinne zu täuschen, aber das war ein Mißgriff, wie er nur in Epochen von verdorbenem Geschmack vorkommt. 71 Jetzt müssen wir die weiter oben von uns aufgestellte Definition der Kunst ergänzen und von der Untersuchung des formalen Prinzips der Kunst zur Definition ihres Inhalts übergehen. 72 * Näheres hierüber in Tschernyschewskis Aufsatz: Aristoteles, „Über die Dichtkunst“, S. 546 des von. Buches. Die Red. 70 Nach diesem Satz heißt es im Manuskript: „Der beste Beweis dafür, daß die griechische Betrachtungsweise. in der späteren sogenannten Theorie der Nachahmung der Natur entstellt worden ist, liegt in der von uns oben angeführten Kritik dieser Theorie. Es ist offensichtlich, daß nach der Auffassung des Autors dieser Kritik die Kunst Wenn sie sich von der Theorie der Nachahmung leiten läßt, darauf ausgeht, durch äußere Ähnlichkeit zu täuschen und den Betrachter dahin zu bringen, daß er die leblose Imitation für den lebendigen Gegenstand, das Porträt für einen wirklichen Menschen, die Theaterkulissen für wirkliches Meer oder wirklichen Eichenwald nimmt. Andernfalls hätte der Kritiker nicht gesagt: indem die Kunst die Natur nachahmt, gibt sie, infolge der Beschränktheit ihrer Mittel, nur Täuschung statt Wahrheit, und statt eines lebendigen Wesens nur eine tote Maske.“ 71 Dieser Satz lautete nach den Worten „die Sinne zu täuschen“ ursprünglich folgendermaßen: „Man kann uns nicht vorwerfen, daß wir die ganze Kunst dieses Mißbrauchs anklagen, der nur den Epochen verdorbenen Geschmacks eigen ist. In unserer Analyse der Mängel der Kunst haben wir nicht diesen Standpunkt bezogen, von dem aus der Autor der zitierten Zeilen die Regeln betrachtet, die eine entstellte Theorie der Kunst vorschreibt, gegen deren falsche Tendenzen er ganz mit Recht auftritt. Die Kunst im allgemeinen der Imitation zu beschuldigen, wäre ungerechtfertigt.“ 72 Dieser Satz fehlt im Manuskript. Dort ist die folgende Stelle gestrichen: „Wir sehen also als formales Prinzip der Kunst die Nachbildung der Wirklichkeit an.“ Dazu gehört die ebenfalls durchstrichene Anmerkung: „Wir OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 224<br />

wenn 69 vorausgesetzt wird, die Kunst wolle mit der Wirklichkeit wetteifern und nicht einfach<br />

ihr Surrogat sein. Aber wir behaupten ja gerade, daß die Kunst keinen Vergleich mit der lebendigen<br />

Wirklichkeit aushält und durchaus nicht jene Lebendigkeit besitzt wie die reale<br />

Wirklichkeit; das halten wir für unzweifelhaft.<br />

Der Ausdruck: „Kunst ist Nachbildung der Wirklichkeit“, muß also, um eine allseitige Definition<br />

zu sein, ergänzt werden; ohne in dieser Form den ganzen Inhalt des zu bestimmenden<br />

Begriffs zu erschöpfen, ist die Bestimmung dennoch richtig, und irgendwelche Einwände<br />

gegen sie können einstweilen nur auf der stillschweigenden Forderung beruhen, die Kunst<br />

müsse definitionsgemäß der [473] Wirklichkeit überlegen, müsse vollkommener sein als sie;<br />

die objektive Unhaltbarkeit dieser Annahme haben wir zu beweisen versucht und haben dann<br />

ihre subjektiven Voraussetzungen aufgedeckt. Sehen wir zu, ob die weiteren Einwände gegen<br />

die Theorie der Nachahmung sich auf unsere Anschauung anwenden lassen.<br />

Bei der Unmöglichkeit, in der Nachahmung der Natur vollen Erfolg zu erzielen, bliebe nur das selbstgenügsame<br />

Vergnügen an dem relativen Erfolg dieses Kunststückes; aber auch diese Freude wird desto frostiger, je ähnlicher<br />

das Nachbild äußerlich dem natürlichen Vorbild wird, und verkehrt sich sogar in Überdruß oder Widerwillen.<br />

Es gibt Porträts, welche dem Vorbild, wie man sagt, bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind. Die vollkommene<br />

Nachahmung des Schlags der Nachtigall wird uns sofort langweilig und widerlich, sobald wir entdecken, daß es<br />

nicht tatsächlich der Schlag der Nachtigall ist, sondern seine Nachahmung durch irgendeinen Kunststückemacher,<br />

der Nachtigalltriller ausführt; denn vom Menschen können wir noch ganz anderes erwarten als solch eine<br />

Musik. Derartige Geschicklichkeit im kunstreichen Nachahmen der Natur ist dem Kunststück jenes gleichzuachten,<br />

der ohne zu fehlen Linsen durch eine Öffnung warf, die nicht größer war als ein Linsenkorn, und den Alexander<br />

der Große mit einem Scheffel Linsen beschenkte. *<br />

Diese Bemerkungen sind durchaus richtig; aber sie beziehen sich auf das nutz- und sinnlose<br />

Kopieren eines Inhalts, der keinerlei Aufmerksamkeit verdient, oder auf das Abzeichnen einer<br />

leeren Äußerlichkeit, die jedes Inhalts bar ist. (Auf wieviel hochgepriesene Kunstwerke<br />

paßt dieser bittere, aber verdiente Spott!) Einzig ein Inhalt, der die Aufmerksamkeit des denkenden<br />

Menschen verdient, kann die Kunst vor dem Vorwurf bewahren, sie sei nichts weiter<br />

als ein leerer Zeitvertreib, was sie ja tatsächlich auch sehr häufig ist; die künstlerische Form<br />

wird kein Kunstwerk vor Geringschätzung oder vor einem mitleidigen Lächeln retten, wenn<br />

es nicht durch die Bedeutsamkeit seiner Idee Antwort auf die Frage zu geben imstande ist:<br />

„Hat es sich wirklich gelohnt, sich damit Mühe zu geben“ Das Unnütze hat kein Recht auf<br />

Achtung. „Der Mensch ist sich selbst [474] Zweck“; aber was der Mensch tut, muß seinen<br />

Zweck in den Bedürfnissen des Menschen haben und nicht in sich selbst. Deshalb erweckt<br />

auch die unnütze Nachahmung um so mehr Widerwillen, je vollkommener die äußere Ähnlichkeit<br />

ist. „Wozu wurde soviel Zeit und Arbeit vergeudet“ denken wir, wenn wir sie betrachten.<br />

„Und wie schade, daß so ein nichtssagender Inhalt mit einer so vollkommenen<br />

Technik vereinbar ist!“ Die Langeweile und der Widerwillen, die der Kunststückemacher<br />

hervorruft, wenn er den Schlag der Nachtigall nachahmt, werden durch die Bemerkungen<br />

erklärt, mit denen die Kritik seine Erwähnung begleitet: kläglich ist der Mensch, der nicht<br />

begreift, daß er ein menschliches Lied singen, nicht aber Triller ausführen soll, die nur im<br />

Gesang der Nachtigall Sinn haben und ihn verlieren, wenn ein Mensch sie wiederholt. Was<br />

die Porträts anlangt, die bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind, so muß man das so verstehen:<br />

jede Kopie muß, um getreu zu sein, die wesentlichen Züge des Originals wiedergeben; ein<br />

Porträt, das nicht die wichtigsten, ausdrucksvollsten Züge des Gesichtes wiedergibt, ist nicht<br />

getreu; wenn dabei aber die kleinlichen Details des Gesichts deutlich wiedergegeben sind,<br />

wirkt das Gesicht auf dem Porträt entstellt, sinnlos, leblos – wie sollte es da nicht ekelhaft<br />

69 Hinter „wenn“ hieß es im Manuskript ursprünglich: „die Kunst über die Natur und das wirkliche Leben gestellt<br />

werden, wenn...“<br />

* Der vorstehende Abschnitt ist eine freie Wiedergabe der Ausführungen Hegels in den „Vorlesungen über die<br />

Ästhetik“, Sämtl. Werke, Bd. XII, Stuttgart 1927, S. 73/74. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!