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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 223<br />
nur die Menschen ergötzen, die in die Galerie gekommen sind, deren Zierde es ist; der Stich<br />
wird in Hunderten von Exemplaren über die ganze Welt verbreitet; jedermann kann sich, wenn<br />
er Lust hat, an ihm ergötzen, ohne sein Zimmer zu verlassen, ohne von seinem Sofa aufzustehen,<br />
ohne seinen [471] Schlafrock auszuziehen; so ist auch der in der Wirklichkeit schöne Gegenstand<br />
nicht jedem und nicht immer zugänglich. Von der Kunst nachgebildet (schwach, grob,<br />
blaß, das ist wahr, aber doch nachgebildet), wird er jedermann und ständig zugänglich. Wir<br />
porträtieren einen Menschen, der uns teuer und lieb ist, nicht, um die Mängel seines Gesichts<br />
auszugleichen (was kümmern uns diese Mängel Wir bemerken sie nicht oder sie sind uns<br />
lieb), sondern um uns die Möglichkeit zu verschaffen, uns an seinem Gesicht selbst dann zu<br />
erfreuen, wenn wir es tatsächlich gar nicht vor Augen haben; den gleichen Zweck und die gleiche<br />
Bestimmung haben die Werke der Kunst: sie korrigieren die Wirklichkeit nicht, sie verschönern<br />
sie nicht, sondern bilden sie nach, dienen ihr als Surrogat.<br />
Somit ist also der erste Zweck der Kunst die Nachbildung der Wirklichkeit. Ohne zu glauben,<br />
daß mit diesen Worten etwas völlig Neues in der Geschichte der ästhetischen Anschauungen<br />
gesagt wäre, sind wir jedoch der Meinung, daß die pseudoklassische „Theorie der Nachahmung<br />
der Natur“, die im 17. und 18. Jahrhundert herrschte, von der Kunst nicht das forderte,<br />
was zu ihrem formalen Prinzip durch die Definition gemacht wird, die lautet: „Kunst ist<br />
Nachbildung der Wirklichkeit“. Damit der wesentliche Unterschied zwischen unserer Betrachtungsweise<br />
der Kunst und der Auffassung, die die pseudoklassische Theorie der Nachahmung<br />
der Natur von ihr hatte, nicht nur durch unsere eigenen Worte verbürgt wird, führen wir hier<br />
eine Kritik dieser Theorie an, die dem besten Lehrbuch des heute herrschenden ästhetischen<br />
Systems entnommen ist. 67 Diese Kritik zeigt einerseits, wie sich die von ihr widerlegten Auffassungen<br />
von unserer Betrachtungsweise unterscheiden, andererseits deckt sie auf, was in<br />
unserer ersten Definition der Kunst als einer nachbildenden Tätigkeit fehlt, und dient auf diese<br />
Weise als Übergang zu einer genaueren Entwicklung der Auffassungen von der Kunst.<br />
In der Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur zeigt sich nur ihr formeller Zweck; entsprechend dieser<br />
Bestimmung soll sie sich nur bemühen, nach Möglichkeit zum zweiten Male zu machen, was schon in der<br />
Außenwelt da ist. Dieses Wiederholen muß als überflüssig [472] angesehen werden, da Natur und Leben uns<br />
schon das bieten, was die Kunst nach dieser Auffassung bieten soll. Mehr noch: die Natur nachzuahmen ist<br />
vergebliches Bemühen, das weit hinter seinem Zweck zurückbleibt, denn bei der Nachahmung der Natur bringt<br />
die Kunst, weil sie beschränkt ist, in ihren Darstellungsmitteln statt Wahrheit nur einseitige Täuschung hervor<br />
und statt wirklicher Lebendigkeit nur eine tote Maske. *<br />
Hier 68 stellen wir zunächst einmal fest, daß mit den Worten: „Kunst ist Nachbildung der<br />
Wirklichkeit“, ebenso wie mit dem Satz: „Kunst ist Nachahmung der Natur“, nur das formale<br />
Prinzip der Kunst definiert ist; zur Definition des Inhalts der Kunst muß der erste Schluß, den<br />
wir hinsichtlich ihres Zwecks gezogen haben, ergänzt werden, und wir werden uns damit im<br />
weiteren befassen. Der andere Einwand ist auf die von uns vorgetragene Betrachtungsweise<br />
überhaupt nicht anwendbar: aus der vorhergehenden Darlegung ist ersichtlich, daß die Nachbildung<br />
oder die „Wiederholung“ von Dingen und Erscheinungen der Natur durch die Kunst<br />
durchaus nichts Überflüssiges, sondern im Gegenteil etwas Notwendiges ist. Was die nächste<br />
Bemerkung betrifft, daß diese Wiederholung vergebliches Bemühen sei, das weit hinter seinem<br />
Zweck zurückbleibe, muß man sagen, daß diese Einwendung nur dann stichhaltig ist,<br />
67 Hiermit sind Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ gemeint.<br />
* Der vorstehende Abschnitt ist eine freie Wiedergabe der Ausführungen Hegels in den „Vorlesungen über die<br />
Ästhetik“, Sämtl. Werke, Bd. XII, Stuttgart 1927, S. 71/72. Die Red.<br />
68 Im Manuskript beginnt dieser Absatz mit den Worten: „Es ist klar, daß von diesen völlig berechtigten Einwänden<br />
gegen eine Theorie, die verlangt, daß die Kunst das Auge durch die Imitation der Wirklichkeit betrügt,<br />
nicht ein einziger gegen unsere Auffassung anzuführen ist; doch...“<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013