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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 222 Mensch findet in der Wirklichkeit nichts wahrhaft und vollendet Schönes.“ Wir haben uns bemüht zu zeigen, daß das unzutreffend ist, daß die Tätigkeit unserer Phantasie nicht durch die Mängel des Schönen in der Wirklichkeit angeregt wird, sondern durch sein Fehlen; daß das Wirklichkeitsschöne durchaus schön ist, jedoch zu unserem Leidwesen uns nicht immer vor Augen steht. Wenn die Kunstwerke als Folge unseres Strebens nach Vollkommenheit und unserer Abneigung gegen alles Unvollkommene zustande kämen 65 , würde der Mensch schon längst jedes künstlerische Streben als fruchtloses Bemühen haben aufgeben müssen, weil es in den Kunstwerken keine Vollkommenheit gibt; wer mit der Wirklichkeitsschönheit unzufrieden ist, kann noch viel weniger mit der von der Kunst geschaffenen Schönheit zufrieden sein. Man kann also unmöglich der gewöhnlichen Erklärung der Bestimmung der Kunst zustimmen; diese Erklärung enthält jedoch Hinweise, Andeutungen, die bei entsprechender Deutung als richtig bezeichnet werden können. „Der Mensch findet an dem Wirklichkeitsschönen keine volle Befriedigung, dieses Schöne genügt ihm nicht.“ – Das ist der eigentliche und wahre Inhalt der üblichen Erklärung, die, falsch verstanden, selbst einer Erklärung bedarf. Das Meer ist schön; wenn wir es betrachten, kommen wir nicht auf den Gedanken, in ästhetischer Hinsicht mit ihm unzufrieden zu sein; doch nicht alle Menschen leben in der Nähe des Meeres; viele bekommen es kein einziges Mal im Leben zu sehen; doch sie möchten sich am Meer erfreuen – Bilder, die das Meer darstellen, sind für sie interessant und gefallen ihnen. Gewiß ist es sehr viel besser, das Meer selbst zu betrachten als seine Darstellung; aber in Ermangelung eines Besseren, begnügt sich der Mensch mit dem Schlechteren, in Ermangelung der Sache selbst – mit ihrem Surrogat. Auch die Menschen, die sich in der Wirklichkeit am Meere erfreuen können, haben nicht immer die Möglichkeit, es nach Belieben zu betrachten – sie [470] gedenken seiner; doch die Phantasie ist schwach, sie bedarf einer Stütze, einer Mahnung, und so betrachten die Menschen, um ihre eigene Erinnerung an das Meer zu beleben, um es sich in ihrer Einbildung klarer vorzustellen ein Bild, auf dem das Meer dargestellt ist. Das ist der einzige Zweck, die einzige Bestimmung sehr vieler Kunstwerke (ihres größten Teils): den Menschen, die nicht Gelegenheit hatten, das Schöne in der Wirklichkeit selber zu genießen, Gelegenheit zu geben, es wenigstens in einem gewissen Grade kennenzulernen; als Mahnung zu dienen und den Menschen die eigene Erinnerung an das Schöne in der Wirklichkeit wachzurufen, die es aus eigener Erfahrung kennen und sich gern daran erinnern. (Wir bleiben einstweilen bei dem Ausdruck: „das Schöne ist der wesentliche Inhalt der Kunst“; in der Folge werden wir an die Stelle des Wortes „das Schöne“ ein anderes setzen, durch das der Inhalt der Kunst, nach unserer Meinung, exakter und vollständiger definiert wird.) 66 Die erste Bestimmung der Kunst, die ausnahmslos allen ihren Werken zukommt, ist also die Nachbildung der Natur und des Lebens. Die Kunstwerke verhalten sich zu den entsprechenden Seiten und Erscheinungen der Wirklichkeit genau so wie der Stich zu dem Bild, nach dem er gemacht ist, wie das Porträt zu dem Menschen, den es darstellt. Man macht ja nicht deshalb einen Stich nach einem Bild, weil das Bild schlecht wäre, sondern gerade deshalb, weil es sehr gut ist; ebenso bildet die Kunst die Wirklichkeit nicht nach, um deren Mängel auszugleichen, nicht deshalb, weil die Wirklichkeit an sich nicht gut genug wäre, sondern gerade deshalb, weil sie gut ist. Der Stich ist nicht besser als das Bild, nach dem er gemacht ist, er ist in künstlerischer Beziehung bedeutend schlechter als dieses Bild; ebenso kommt auch das Kunstwerk niemals an die Schönheit oder Größe der Wirklichkeit heran; aber das Bild ist nur einmal vorhanden, an ihm können sich 65 Im Manuskript heißt es weiter: „wenn sie deshalb zustande kämen, ‚weil es auf Erden keine Vollkommenheit gibt, wir aber Vollkommenheit brauchen‘, dann...“ 66 Im Manuskript heißt es weiter: „Diese Bestimmung herrscht in allen Künsten vor außer der Dichtung, die außerdem noch die Bestimmung hat, zur Erklärung des Lebens zu dienen. Die Malerei, die Bildhauerkunst und besonders die Musik sind zuweilen, soweit ihre Mittel es erlauben, ebenfalls bestrebt, das Leben zu erklären, aber ihre Erklärungen sind zu unbestimmt, unklar und deshalb unverständlich; sie müssen sich vorwiegend auf die Nachbildung beschränken und nicht auf Erklärungen einlassen.“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 223 nur die Menschen ergötzen, die in die Galerie gekommen sind, deren Zierde es ist; der Stich wird in Hunderten von Exemplaren über die ganze Welt verbreitet; jedermann kann sich, wenn er Lust hat, an ihm ergötzen, ohne sein Zimmer zu verlassen, ohne von seinem Sofa aufzustehen, ohne seinen [471] Schlafrock auszuziehen; so ist auch der in der Wirklichkeit schöne Gegenstand nicht jedem und nicht immer zugänglich. Von der Kunst nachgebildet (schwach, grob, blaß, das ist wahr, aber doch nachgebildet), wird er jedermann und ständig zugänglich. Wir porträtieren einen Menschen, der uns teuer und lieb ist, nicht, um die Mängel seines Gesichts auszugleichen (was kümmern uns diese Mängel Wir bemerken sie nicht oder sie sind uns lieb), sondern um uns die Möglichkeit zu verschaffen, uns an seinem Gesicht selbst dann zu erfreuen, wenn wir es tatsächlich gar nicht vor Augen haben; den gleichen Zweck und die gleiche Bestimmung haben die Werke der Kunst: sie korrigieren die Wirklichkeit nicht, sie verschönern sie nicht, sondern bilden sie nach, dienen ihr als Surrogat. Somit ist also der erste Zweck der Kunst die Nachbildung der Wirklichkeit. Ohne zu glauben, daß mit diesen Worten etwas völlig Neues in der Geschichte der ästhetischen Anschauungen gesagt wäre, sind wir jedoch der Meinung, daß die pseudoklassische „Theorie der Nachahmung der Natur“, die im 17. und 18. Jahrhundert herrschte, von der Kunst nicht das forderte, was zu ihrem formalen Prinzip durch die Definition gemacht wird, die lautet: „Kunst ist Nachbildung der Wirklichkeit“. Damit der wesentliche Unterschied zwischen unserer Betrachtungsweise der Kunst und der Auffassung, die die pseudoklassische Theorie der Nachahmung der Natur von ihr hatte, nicht nur durch unsere eigenen Worte verbürgt wird, führen wir hier eine Kritik dieser Theorie an, die dem besten Lehrbuch des heute herrschenden ästhetischen Systems entnommen ist. 67 Diese Kritik zeigt einerseits, wie sich die von ihr widerlegten Auffassungen von unserer Betrachtungsweise unterscheiden, andererseits deckt sie auf, was in unserer ersten Definition der Kunst als einer nachbildenden Tätigkeit fehlt, und dient auf diese Weise als Übergang zu einer genaueren Entwicklung der Auffassungen von der Kunst. In der Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur zeigt sich nur ihr formeller Zweck; entsprechend dieser Bestimmung soll sie sich nur bemühen, nach Möglichkeit zum zweiten Male zu machen, was schon in der Außenwelt da ist. Dieses Wiederholen muß als überflüssig [472] angesehen werden, da Natur und Leben uns schon das bieten, was die Kunst nach dieser Auffassung bieten soll. Mehr noch: die Natur nachzuahmen ist vergebliches Bemühen, das weit hinter seinem Zweck zurückbleibt, denn bei der Nachahmung der Natur bringt die Kunst, weil sie beschränkt ist, in ihren Darstellungsmitteln statt Wahrheit nur einseitige Täuschung hervor und statt wirklicher Lebendigkeit nur eine tote Maske. * Hier 68 stellen wir zunächst einmal fest, daß mit den Worten: „Kunst ist Nachbildung der Wirklichkeit“, ebenso wie mit dem Satz: „Kunst ist Nachahmung der Natur“, nur das formale Prinzip der Kunst definiert ist; zur Definition des Inhalts der Kunst muß der erste Schluß, den wir hinsichtlich ihres Zwecks gezogen haben, ergänzt werden, und wir werden uns damit im weiteren befassen. Der andere Einwand ist auf die von uns vorgetragene Betrachtungsweise überhaupt nicht anwendbar: aus der vorhergehenden Darlegung ist ersichtlich, daß die Nachbildung oder die „Wiederholung“ von Dingen und Erscheinungen der Natur durch die Kunst durchaus nichts Überflüssiges, sondern im Gegenteil etwas Notwendiges ist. Was die nächste Bemerkung betrifft, daß diese Wiederholung vergebliches Bemühen sei, das weit hinter seinem Zweck zurückbleibe, muß man sagen, daß diese Einwendung nur dann stichhaltig ist, 67 Hiermit sind Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ gemeint. * Der vorstehende Abschnitt ist eine freie Wiedergabe der Ausführungen Hegels in den „Vorlesungen über die Ästhetik“, Sämtl. Werke, Bd. XII, Stuttgart 1927, S. 71/72. Die Red. 68 Im Manuskript beginnt dieser Absatz mit den Worten: „Es ist klar, daß von diesen völlig berechtigten Einwänden gegen eine Theorie, die verlangt, daß die Kunst das Auge durch die Imitation der Wirklichkeit betrügt, nicht ein einziger gegen unsere Auffassung anzuführen ist; doch...“ OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 222<br />

Mensch findet in der Wirklichkeit nichts wahrhaft und vollendet Schönes.“ Wir haben uns<br />

bemüht zu zeigen, daß das unzutreffend ist, daß die Tätigkeit unserer Phantasie nicht durch die<br />

Mängel des Schönen in der Wirklichkeit angeregt wird, sondern durch sein Fehlen; daß das<br />

Wirklichkeitsschöne durchaus schön ist, jedoch zu unserem Leidwesen uns nicht immer vor<br />

Augen steht. Wenn die Kunstwerke als Folge unseres Strebens nach Vollkommenheit und<br />

unserer Abneigung gegen alles Unvollkommene zustande kämen 65 , würde der Mensch schon<br />

längst jedes künstlerische Streben als fruchtloses Bemühen haben aufgeben müssen, weil es in<br />

den Kunstwerken keine Vollkommenheit gibt; wer mit der Wirklichkeitsschönheit unzufrieden<br />

ist, kann noch viel weniger mit der von der Kunst geschaffenen Schönheit zufrieden sein. Man<br />

kann also unmöglich der gewöhnlichen Erklärung der Bestimmung der Kunst zustimmen;<br />

diese Erklärung enthält jedoch Hinweise, Andeutungen, die bei entsprechender Deutung als<br />

richtig bezeichnet werden können. „Der Mensch findet an dem Wirklichkeitsschönen keine<br />

volle Befriedigung, dieses Schöne genügt ihm nicht.“ – Das ist der eigentliche und wahre Inhalt<br />

der üblichen Erklärung, die, falsch verstanden, selbst einer Erklärung bedarf.<br />

Das Meer ist schön; wenn wir es betrachten, kommen wir nicht auf den Gedanken, in ästhetischer<br />

Hinsicht mit ihm unzufrieden zu sein; doch nicht alle Menschen leben in der Nähe des<br />

Meeres; viele bekommen es kein einziges Mal im Leben zu sehen; doch sie möchten sich am<br />

Meer erfreuen – Bilder, die das Meer darstellen, sind für sie interessant und gefallen ihnen.<br />

Gewiß ist es sehr viel besser, das Meer selbst zu betrachten als seine Darstellung; aber in Ermangelung<br />

eines Besseren, begnügt sich der Mensch mit dem Schlechteren, in Ermangelung<br />

der Sache selbst – mit ihrem Surrogat. Auch die Menschen, die sich in der Wirklichkeit am<br />

Meere erfreuen können, haben nicht immer die Möglichkeit, es nach Belieben zu betrachten –<br />

sie [470] gedenken seiner; doch die Phantasie ist schwach, sie bedarf einer Stütze, einer Mahnung,<br />

und so betrachten die Menschen, um ihre eigene Erinnerung an das Meer zu beleben, um<br />

es sich in ihrer Einbildung klarer vorzustellen ein Bild, auf dem das Meer dargestellt ist. Das ist<br />

der einzige Zweck, die einzige Bestimmung sehr vieler Kunstwerke (ihres größten Teils): den<br />

Menschen, die nicht Gelegenheit hatten, das Schöne in der Wirklichkeit selber zu genießen,<br />

Gelegenheit zu geben, es wenigstens in einem gewissen Grade kennenzulernen; als Mahnung<br />

zu dienen und den Menschen die eigene Erinnerung an das Schöne in der Wirklichkeit wachzurufen,<br />

die es aus eigener Erfahrung kennen und sich gern daran erinnern. (Wir bleiben einstweilen<br />

bei dem Ausdruck: „das Schöne ist der wesentliche Inhalt der Kunst“; in der Folge werden<br />

wir an die Stelle des Wortes „das Schöne“ ein anderes setzen, durch das der Inhalt der Kunst,<br />

nach unserer Meinung, exakter und vollständiger definiert wird.) 66 Die erste Bestimmung der<br />

Kunst, die ausnahmslos allen ihren Werken zukommt, ist also die Nachbildung der Natur und<br />

des Lebens. Die Kunstwerke verhalten sich zu den entsprechenden Seiten und Erscheinungen<br />

der Wirklichkeit genau so wie der Stich zu dem Bild, nach dem er gemacht ist, wie das Porträt<br />

zu dem Menschen, den es darstellt. Man macht ja nicht deshalb einen Stich nach einem Bild,<br />

weil das Bild schlecht wäre, sondern gerade deshalb, weil es sehr gut ist; ebenso bildet die<br />

Kunst die Wirklichkeit nicht nach, um deren Mängel auszugleichen, nicht deshalb, weil die<br />

Wirklichkeit an sich nicht gut genug wäre, sondern gerade deshalb, weil sie gut ist. Der Stich<br />

ist nicht besser als das Bild, nach dem er gemacht ist, er ist in künstlerischer Beziehung bedeutend<br />

schlechter als dieses Bild; ebenso kommt auch das Kunstwerk niemals an die Schönheit<br />

oder Größe der Wirklichkeit heran; aber das Bild ist nur einmal vorhanden, an ihm können sich<br />

65 Im Manuskript heißt es weiter: „wenn sie deshalb zustande kämen, ‚weil es auf Erden keine Vollkommenheit<br />

gibt, wir aber Vollkommenheit brauchen‘, dann...“<br />

66 Im Manuskript heißt es weiter: „Diese Bestimmung herrscht in allen Künsten vor außer der Dichtung, die<br />

außerdem noch die Bestimmung hat, zur Erklärung des Lebens zu dienen. Die Malerei, die Bildhauerkunst und<br />

besonders die Musik sind zuweilen, soweit ihre Mittel es erlauben, ebenfalls bestrebt, das Leben zu erklären,<br />

aber ihre Erklärungen sind zu unbestimmt, unklar und deshalb unverständlich; sie müssen sich vorwiegend auf<br />

die Nachbildung beschränken und nicht auf Erklärungen einlassen.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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