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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 220<br />

Wir haben gesehen, daß der Eindruck, den die Schöpfungen der Kunst ausüben, viel schwächer<br />

sein muß als der Eindruck, der von der lebendigen Wirklichkeit ausgeht, und wir halten<br />

es nicht für notwendig, dies zu beweisen. Und doch befindet sich das Kunstwerk in dieser<br />

Beziehung in viel günstigeren Umständen als die Erscheinungen der Wirklichkeit; diese Umstände<br />

können einen Menschen, der nicht gewöhnt ist, die Ursache seiner Empfindungen zu<br />

analysieren, zu der Annahme verleiten, daß die Kunst an sich eine größere Wirkung auf den<br />

Menschen ausübe als die lebendige Wirklichkeit. Die Wirklichkeit tritt uns unabhängig von<br />

unserem Willen, meistens nicht zur rechten Zeit, ungelegen vor Augen. 64 Sehr häufig gehen<br />

wir zu einer Gesellschaft oder auf einen Spaziergang durchaus nicht, um uns an menschlicher<br />

Schönheit zu erfreuen, nicht um Charaktere zu beobachten oder dem Drama des Lebens<br />

nachzugehen; wir gehen hin, den Kopf voller Sorgen, das Herz verschlossen für Eindrücke.<br />

Wer aber geht in eine Gemäldegalerie zu anderen Zwecken, als um sich an der Schönheit der<br />

Bilder zu erfreuen Wer geht mit anderer Absicht daran, einen Roman zu lesen, als um sich<br />

in die Charaktere der darin dargestellten Menschen zu vertiefen und die Entwicklung des<br />

Sujets zu verfolgen Auf die Schönheit und Größe der Wirklichkeit achten wir gewöhnlich<br />

fast gezwungenermaßen. Soll sie selber, wenn sie kann, unseren Blick auf sich lenken, der<br />

auf ganz andere Dinge gerichtet ist, soll sie gewaltsam in unser Herz eindringen, das mit ganz<br />

anderem beschäftigt ist! Wir behandeln die Wirklichkeit wie einen lästigen Gast, der uns seine<br />

Bekanntschaft auf-[466]drängt: wir geben uns Mühe, uns vor ihr zu verschließen. Aber es<br />

gibt Stunden, wo unsere Nichtachtung der Wirklichkeit in unserem Herzen eine Leere entstehen<br />

läßt, und dann wenden wir uns an die Kunst und beschwören sie, diese Leere auszufüllen;<br />

wir selbst spielen vor ihr die Rolle des flehenden Bittstellers. Unser Lebensweg ist mit<br />

Goldmünzen bestreut, aber wir bemerken sie nicht, weil wir an das Ziel der Reise denken und<br />

nicht auf den Weg achten, den wir unter den Füßen haben; wenn wir sie bemerken, können<br />

wir uns nicht nach ihnen bücken, weil der „Wagen des Lebens“ uns unaufhaltsam vorwärts<br />

trägt – das ist unsere Einstellung zur Wirklichkeit; doch nun sind wir auf einer Station angelangt<br />

und promenieren, gelangweilt auf die Pferde wartend, auf und ab – und sofort betrachten<br />

wir aufmerksam jede Blechschnalle, die vielleicht gar keine Aufmerksamkeit verdient –<br />

das ist unsere Einstellung zur Kunst. Ganz zu schweigen davon, daß sich über die Erscheinungen<br />

des Lebens jeder selbst sein Urteil bilden muß, weil das Leben dem Einzelmenschen<br />

besondere Erscheinungen darbietet, die die anderen nicht sehen, über die sich daher nicht die<br />

ganze Gesellschaft ein Urteil gebildet hat, während über die Werke der Kunst ein Urteil der<br />

Allgemeinheit vorliegt. Die Schönheit und Größe des wirklichen Lebens tritt selten mit einem<br />

Patent vor uns hin; was aber nicht mit Pauken und Trompeten angepriesen wird, wissen nur<br />

wenige zu bemerken und zu schätzen; die Erscheinungen der Wirklichkeit sind ein Goldbarren<br />

ohne Stempel: sehr viele lehnen es allein schon aus dem Grunde ab, ihn anzunehmen,<br />

weil sie ihn nicht von einem Stück Kupfer unterscheiden können; die Kunstwerke sind eine<br />

Banknote, die sehr wenig inneren Wert besitzt, für deren konventionellen Wert jedoch die<br />

ganze Gesellschaft bürgt, die deshalb von jedermann geschätzt wird, wobei nur wenigen klar<br />

bewußt wird, daß ihr ganzer Wert einzig der Tatsache entliehen ist, daß sie ein Stück Gold<br />

vertritt. Wenn wir die Wirklichkeit betrachten, hält sie selbst uns im Banne als etwas völlig<br />

Selbständiges und läßt uns selten die Möglichkeit, uns in Gedanken in unsere subjektive<br />

Welt, in unsere Vergangenheit zu versetzen. Wenn ich dagegen ein Kunst-[467]werk betrachte,<br />

haben meine subjektiven Erinnerungen völlig freien Spielraum, und das Kunstwerk wird<br />

dabei für mich gewöhnlich nur zum Anlaß für bewußte oder unbewußte Träumereien und<br />

64 Im Manuskript heißt es weiter: „Wenn ich einmal das Meer zu sehen bekomme, kann mein Kopf mit völlig<br />

anderen Gedanken beschäftigt sein (und ist es gewöhnlich auch), und dann bemerke ich das Meer gar nicht und<br />

habe keine Neigung, es ästhetisch zu genießen. Kunstwerke dagegen genieße ich, wenn ich Lust dazu habe,<br />

wenn ich darauf eingestellt bin, sie zu genießen, und betrachte eine Seelandschaft eben dann, wenn ich fähig<br />

bin, mich an ihr zu freuen.“<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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