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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 219<br />

Belletristik und Johann Millers in den Geschichtswerken. Die Werke der Kunst schmeicheln<br />

allen unseren kleinlichen Ansprüchen, die der Liebe der Künstlichkeit entspringen. Wir wollen<br />

nicht davon reden, daß wir bis heute die Natur noch gern „reinwaschen“, wie man sie im<br />

18. Jahrhundert gern herausputzte – das würde uns zu langen Erörterungen darüber verleiten,<br />

was das „Schmutzige“ ist und bis zu welchem Grade es in den Schöpfungen der Kunst in<br />

Erscheinung treten muß. Aber bis heute ist in den Kunstwerken eine kleinliche Ausfeilung<br />

der Details vorherrschend, deren Ziel nicht ist, die Details in Harmonie mit dem Geist des<br />

Ganzen zu bringen, sondern nur, jedes von ihnen im einzelnen interessanter oder schöner zu<br />

machen, fast stets zum Schaden des allgemeinen Eindrucks des Werkes, seiner Glaubwürdigkeit<br />

und Natürlichkeit; überall dominiert kleinliche Effekthascherei in einzelnen Worten, einzelnen<br />

Sätzen und ganzen Episoden, ein Anpinseln der Personen und Vorgänge mit nicht<br />

recht natürlichen, aber grellen Farben. Das Kunstwerk ist kleinlicher als das, was wir im Leben<br />

und in der Natur sehen, und gleichzeitig effektvoller – wie sollte sich da nicht die Meinung<br />

einbürgern, daß es schöner sei als die wirkliche Natur und das Leben, die so wenig<br />

Künstlichkeit haben, denen das Bestreben, Interesse zu wecken, fremd ist<br />

Die Natur und das Leben stehen höher als die Kunst; aber die Kunst ist bemüht, es unseren Neigungen<br />

recht zu machen, die Wirklichkeit läßt sich dagegen nicht unserem Bestreben unterordnen,<br />

alles in dem Lichte und der Ordnung zu sehen, die uns gefällt oder unseren, häufig einseitigen,<br />

Begriffen entspricht. Von den vielen Fällen dieses [464] Bemühens, es der herrschenden<br />

Denkweise recht zu machen, nennen wir einen: viele Leute fordern, daß in satirischen Werken<br />

Personen vorkommen, „bei denen das Herz des Lesers liebevoll ausruhen kann“ – eine sehr natürliche<br />

Forderung; aber die Wirklichkeit befriedigt sie sehr häufig nicht, denn sie bietet uns eine<br />

Menge von Begebenheiten, in denen keine einzige erfreuliche Person vorkommt; die Kunst ist<br />

dieser Forderung fast stets gefällig; und wir wissen nicht, ob sich zum Beispiel in der russischen<br />

Literatur außer Gogol ein Schriftsteller finden läßt, der sich ihr nicht fügt; und bei Gogol selbst<br />

wird man für den Mangel an „erfreulichen“ Personen durch „hochlyrische“ Abschweifungen<br />

entschädigt. Ein anderes Beispiel: der Mensch neigt zur Sentimentalität; Natur und Leben teilen<br />

diese Tendenz nicht; aber die Schöpfungen der Kunst befriedigen sie fast stets mehr oder weniger.<br />

Die eine wie die andere Forderung sind eine Folge der Beschränktheit des Menschen; die<br />

Natur und das wirkliche Leben stehen über dieser Beschränktheit; die Werke der Kunst, die sich<br />

ihr fügen, dadurch hinter der Wirklichkeit zurückbleiben und sehr häufig sogar in Gefahr geraten,<br />

banal oder schwach zu werden, kommen den üblichen Bedürfnissen des Menschen näher<br />

und gewinnen dadurch in seinen Augen. „Aber dann geben Sie ja selbst zu, daß die Kunstwerke<br />

die menschliche Natur besser oder vollständiger befriedigen als die objektive Wirklichkeit; folglich<br />

sind sie für den Menschen besser als die Schöpfungen der Wirklichkeit“ – Diese Schlußfolgerung<br />

ist nicht ganz exakt ausgedrückt; die Sache ist die, daß ein verbildeter Mensch viele<br />

künstliche, bis zur Verlogenheit, bis zur Phantasterei verzerrte Bedürfnisse hat, die nicht vollständig<br />

zu befriedigen sind, weil sie eigentlich nicht Bedürfnisse der Natur, sondern Wahnvorstellungen<br />

einer verdorbenen Einbildungskraft sind, denen man es kaum je recht machen kann,<br />

es sei denn, man will sich dem Spott und der Verachtung dieses selben Menschen, dem man es<br />

recht machen möchte, aussetzen, denn er fühlt selbst instinktiv, daß sein Bedürfnis keine Befriedigung<br />

verdient. So fordert das Publikum und mit ihm die Ästhetik „erfreuliche“ Personen, Sentimentalität<br />

– aber das gleiche Publikum macht sich über [465] die Kunstwerke lustig, die diesem<br />

Wunsche nachkommen. Den Launen eines Menschen gefällig sein bedeutet noch nicht, die<br />

Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Das oberste dieser Bedürfnisse ist die Wahrheit.<br />

Wir sprachen bereits von den Quellen der Bevorzugung der Kunstwerke vor den Erscheinungen<br />

der Natur und des Lebens in bezug auf Inhalt und Ausführung, aber sehr wichtig ist auch<br />

der Eindruck, den Kunst oder Wirklichkeit auf uns ausüben: sein Grad ist ebenfalls ein Maßstab<br />

für den Wert der Sache.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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