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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 218<br />

Ein anderes Beispiel: Wie hochgeachtet war einst die Kalligraphie; dabei ist ein recht mittelmäßig<br />

gedrucktes Buch unvergleichlich schöner als jede Handschrift; doch wer begeistert<br />

sich für die Kunst eines Buchdruckereidirektors, und wer wird sich nicht tausendmal mehr an<br />

einer schönen Handschrift freuen als an einem anständig gedruckten Buch, das tausendmal<br />

schöner ist als die Handschrift Was leicht ist, interessiert uns wenig, auch wenn es dem Mühevollen<br />

an innerem Wert unvergleichlich überlegen ist. Es versteht sich von selbst, daß wir<br />

auch von diesem Standpunkt aus nur subjektiv recht haben: „Die Wirklichkeit bringt das<br />

Schöne ohne Anstrengung hervor“ – das bedeutet nur, daß die Anstrengung in diesem Falle<br />

nicht nach dem Willen des Menschen gemacht wird; tatsächlich ist alles in der Wirklichkeit –<br />

das Schöne wie das Unschöne, das Große wie das Kleine – das Resultat denkbar höchster<br />

Kraftanstrengung, die weder Ausruhen noch Müdigkeit kennt. Aber was gehen uns Anstrengungen<br />

und Kämpfe an, die nicht mit unseren Kräften geführt werden und an denen unser<br />

Bewußtsein nicht teilhat Wir wollen nicht einmal etwas von ihnen wissen; wir schätzen nur<br />

die menschliche Kraft, wir schätzen nur den Menschen. Und hier eine andere Quelle unserer<br />

Voreingenommenheit für die Werke der Kunst: sie sind Werke des Menschen; deshalb sind<br />

wir alle stolz auf sie und sehen sie als etwas an, was uns persönlich nahesteht; sie zeugen<br />

vom Verstand des Menschen, von seiner Stärke, und darum sind sie uns teuer. Alle Völker,<br />

mit Ausnahme [462] der Franzosen, sehen sehr wohl, daß zwischen Corneille oder Racine<br />

und Shakespeare ein unermeßlicher Abstand liegt; die Franzosen jedoch vergleichen sie bis<br />

heute noch miteinander – es ist schwer, sich bewußt zu machen: „das Unsere ist nicht ganz<br />

auf der Höhe“; es gibt unter uns sehr viele Menschen, die bereit sind zu behaupten, daß<br />

Puschkin ein Dichter von Weltrang ist; es gibt sogar Menschen, die ihn über Byron stellen: so<br />

hoch schätzt der Mensch das Seine. 63 Wie ein Volk den Wert seiner Dichtung überschätzt, so<br />

überschätzt der Mensch im allgemeinen den Wert der Dichtung im allgemeinen.<br />

Die von uns angeführten Gründe der Voreingenommenheit für die Kunst verdienen Achtung,<br />

denn sie sind natürlich: wie sollte der Mensch nicht die menschliche Arbeit achten, wie sollte<br />

der Mensch nicht den Menschen lieben, nicht Werke schätzen, die vom Verstand und der<br />

Stärke des Menschen zeugen Aber schwerlich verdient eine solche Achtung der dritte Grund<br />

unserer Vorliebe für die Kunst. Die Kunst schmeichelt unserem gekünstelten Geschmack.<br />

Wir begreifen sehr wohl, wie gekünstelt die Sitten, die Gebräuche und die ganze Denkweise<br />

der Zeiten Ludwigs XIV. waren; wir sind seither der Natur nähergekommen, verstehen sie<br />

bedeutend besser und schätzen sie höher, als die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts sie verstand<br />

und schätzte; dennoch sind wir noch sehr weit von der Natur entfernt; unsere Gebräuche,<br />

Sitten, unsere ganze Lebensweise und folglich unsere ganze Denkweise sind noch sehr<br />

gekünstelt. Es ist schwer, die Mängel des eigenen Jahrhunderts zu erkennen, besonders wenn<br />

die Mängel im Vergleich mit früheren Zeiten schwächer geworden sind; statt zu bemerken,<br />

wieviel gesuchte Künstlichkeit es bei uns noch gibt, bemerken wir nur, daß das 19. Jahrhundert<br />

dem 17. in dieser Hinsicht überlegen ist und besser als jenes die Natur versteht, und vergessen<br />

dabei, daß eine schwächer gewordene Krankheit noch nicht die volle Gesundheit ist.<br />

Unsere Gekünsteltheit ist überall zu sehen, angefangen bei der Kleidung, über die sich alle so<br />

lustig machen und die alle weitertragen, bis zu unseren Speisen, die mit allen möglichen, den<br />

natürlichen Geschmack der Gerichte völlig verändernden Zutaten [463] gewürzt sind; von der<br />

Gesuchtheit unserer Umgangssprache bis zur Gesuchtheit unserer Literatursprache, die immer<br />

noch mit Antithesen, geistreichen Wendungen, Abschweifungen aus loci topici * , tiefsinnigen<br />

Auslassungen über abgeschmackte Themen und tiefsinnigen Anmerkungen über das<br />

menschliche Herz ausgeschmückt wird, ganz in der Manier Corneilles und Racines in der<br />

63 Die Weltbedeutung, die das Schaffen des genialen russischen Dichters A. S. Puschkin besitzt, ist allgemein<br />

bekannt und unbestritten.<br />

* loci topici (lat.) – Gemeinplätze. Die Red.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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